Waldröschen VI. Die Abenteuer des schwarzen Gerard 1. Karl May
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Er besann sich einen Augenblick; dann ging über sein Gesicht ein Lächeln, welches sie sich nicht zu deuten vermochte; es war das Lächeln eines Richters, der nach dem Gesetz handelte: Auge um Auge, Zahn um Zahn.
»Gut«, sagte er, »ich werde Eurem Befehl gehorchen und ihn in sein Zimmer bringen. Ihr aber sollt liegenbleiben; Ihr dürft Euch nicht um ihn und mich bemühen.«
Es lag in seinem wenn auch leisen Ton ein Etwas, dem sie nicht zu widersprechen wagte.
»Tut, was Ihr wollt, Señor, nur laßt es niemanden erfahren«, bat sie. »Nehmt ihn auf, dort liegt noch sein Drücker. Gute Nacht, Señor Gerard.«
Sie streckte ihm die Hand entgegen. Er konnte nicht anders, er nahm sie und drückte sie an das Herz und an die Lippen. Sie ließ es ruhig geschehen und fügte hinzu:
»Ihr habt mich heute vor einer großen Gefahr bewahrt; darf ich Euch um etwas bitten?« – »Sprecht, Señorita!« – »Laßt uns nicht auf immer voneinander scheiden!« – »Ihr sprecht diesen Wunsch nur aus Dankbarkeit aus?« – »Nein«, antwortete sie mit dem Ausdruck der Wahrheit. – »Oder aus Mitleid?« – »Auch nicht!« – »Ist das wahr, Señorita?« – »Ich schwöre es Euch.« – »So danke ich Euch! Ihr werdet mich wiedersehen.«
Seine Augen leuchteten auf wie unter dem ersten Strahl eines unendlichen Glückes. Sie bemerkte es wohl, und eine tiefe Röte ergoß sich über ihr Gesicht. Dann sagte sie:
»Da, nehmt meine Hand! Ihr seid ja mein Retter, und ich habe Vertrauen zu Euch.« – »Vertrauen? Vertrauen? Ist das wahr, Señorita?« – »Ja.« – »Vertrauen! Vertrauen! Oh, mein Gott!« stieß er mit einem tiefen Atemzug hervor. »Ihr wißt alles, alles, Ihr kennt meine Vergangenheit und schenkt mir doch Vertrauen! Das gibt mir neues Leben!«
Gerard sank an ihrem Lager nieder, ergriff ihre Hände und senkte seine Stirn auf dieselben. Sie aber stützte sich auf den Ellbogen, näherte ihr Gesicht seinem Kopf und flüsterte:
»Ja, Señor Gerard, ich vertraue Euch! Ihr habt viel gesündigt, aber auch viel gelitten. Ich bin überzeugt, daß Ihr niemals wieder etwas Böses tun könnt.« – »Nie, nie!« schluchzte er.
Nichts ergreift das Herz eines Weibes tiefer, als die Träne eines starken, charakterfesten Mannes. Auch ihre Augen wurden feucht. Ihre Seele zitterte unter einer heiligen Regung, und sie bat mit leiser Stimme:
»Seht mich einmal an, Señor! Erhebt Euer Angesicht zu mir!«
Er gehorchte. Da senkte sie ihren Kopf, gab ihm einen Kuß auf die Stirn und einen zweiten auf den Mund und fuhr fort:
»Ich habe noch niemals einen Mann geküßt. Denkt, Gott habe Euch diese Küsse gesandt, zum Zeichen, daß er versöhnt sei und Euch vergeben habe! Laßt Euer Leben nicht mehr so trübe und so dunkel sein und faßt Glauben und eine feste, freudige Zuversicht zum Himmel, der mein Gebet erhören und Euch begnadigen wird! Gute Nacht!«
Gerard hatte ihr zugehört, wie man einem Engel zuhört.
»Gute Nacht«, erwiderte er in tiefster Bewegung.
Mehr konnte er nicht hervorbringen. Er neigte noch einmal sein Gesicht hinab zu den weichen Händen, nahm den Kapitän vom Boden auf, um mit ihm das Zimmer zu verlassen und ihn nach der Gaststube zu tragen, wo das Licht noch brannte, und ging dann wieder hinauf, um den geliehenen Drücker an seine Stelle zu bringen.
Als er zu dem Besinnungslosen zurückkehrte, band er diesem die Arme und Beine fest zusammen, schlang sich den Lasso vom Leib und ließ jenen damit durchs Fenster ins Freie hinab; worauf er selbst folgte.
Nun ging er nach dem Stall, und obwohl kein Licht darin brannte, gelang es ihm doch, das Pferd des Kapitäns zu finden und auch den Sattel, den er dem Tier auflegte. Er zog es heraus und band den Gefesselten darauf. Dann holte er ein ungesatteltes Pferd für sich, schwang sich nach echter Vaqueroart hinauf und ritt, das andere Tier an der Leine führend, erst langsam und später in gestrecktem Galopp davon.
Gerard hatte keine Zeit zu verlieren, denn er mußte in fünf Tagen wieder zurück sein. Daß er ein Pferd für sich genommen hatte, war keineswegs ein Diebstahl. Wo die Pferde frei herumlaufen, darf man das erste beste sich einfangen, wenn man es nur wieder frei gibt, damit es zurückkehren kann. Ein jeder Besitzer erkennt seine Tiere an dem eingebrannten Zeichen.
Gerard setzte über den Puercos-Fluß und jagte weiter durch Täler, über Berge und Prärien immer nach Südwesten hin. Dem Kapitän war jedenfalls schon längst die Besinnung zurückgekehrt, doch zog er es vor, sich schweigsam zu verhalten und keinen Laut von sich zu geben.
Während dieses Parforcerittes ging Gerard mit sich über das Schicksal seines Gefangenen zu Rate. Ihm selbst war heute so viel Gnade und Vergebung zuteil geworden, daß er sein Herz zur Milde gestimmt fühlte; aber die Klugheit und das Gerechtigkeitsgefühl geboten ihm das Gegenteil.
Noch während des nächtlichen Dunkels bemerkte er, daß der Kapitän auch ohne seine Fesseln fest im Sattel saß und den Schenkeldruck ausübte, er mußte sich also wieder ganz wohl befinden. Und als der Tag zu grauen begann, da sah er, daß der Gefangene die Augen offenhielt und wohlgemut in die Ferne blickte.
Jetzt sprang Gerard vom Pferd und band den anderen los, ohne ihm jedoch die Fesseln abzunehmen. Dies löste das bisher beobachtete Schweigen.
»Ihr habt bisher Theater mit mir gespielt, Señor«, begann der Kapitän. »Ich hoffe, daß Ihr mich nun endlich freigeben werdet.« – »Täuscht Euch nicht!« lautete die Antwort. »Ich halte nur an, um über Euch zu Gericht zu sitzen.« – »Pah!« lachte der andere. »Macht keinen dummen Spaß!« – »Ich meine es sogar sehr ernst. Ich werde Euch die Beine losbinden, damit Ihr wenigstens sitzen könnt. So, und nun mag es beginnen.« – »Na, wenn es Euch gefällt, so spielt Eure Rolle weiter!« – »Das werde ich sicher. Ich mache Euch jedoch darauf aufmerksam, daß ich nur fünf Minuten für Euch übrig habe.« – »Das ist mir lieb«, lachte der Offizier. – »Und daß Ihr dann eine Leiche sein werdet.« – »Papperlapapp!« – »Scherzt Euch immerhin in den Tod hinein, ich habe nichts dagegen. Doch sagt mir zunächst, ob Ihr mich kennt!« – »Nein, ich habe nicht die Ehre!« – »Nun, so erlaubt, daß ich mich vorstelle! Man nennt mich den Schwarzen Gerard.«
Als der Gefangene diesen Namen hörte, erbleichte er. Der Kläger aber fuhr fort:
»Wenn ein Gefangener in die Hände der Franzosen fällt, wird er ohne Barmherzigkeit erschossen, obgleich Präsident Juarez Eure Kameraden, die er gefangennimmt, gütig behandelt hat. Ich gehöre zu Juarez, und Ihr seid mein Gefangener. Was wartet also Eurer? Der Tod!« – »Señor! Ich bin Offizier!« brauste der Kapitän auf. – »Ihr habt Euch nicht als Offizier betragen, werdet also auch nicht als solcher behandelt. Weiter, der zweite Anklagepunkt: Das Auge, das die Reize von Señorita Resedilla gesehen hat, darf nichts mehr sehen. Also: Tod!« – »Wer gibt diese Gesetze? Ihr seid ein Teufel!« – »Das mag Gott entscheiden. Ferner: Ihr seid als Spion zu den Komantschen gegangen, um sechshundert Krieger zu holen – also: Tod!«
Der Gefangene erbleichte. Er widersprach nicht. Gerard fuhr fort:
»Ihr wolltet in fünf Tagen mit Eurer Kompanie das Fort Guadeloupe überfallen, also: Tod! Diese Gründe sind