Waldröschen VI. Die Abenteuer des schwarzen Gerard 1. Karl May
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Bei »drei« krachte der Schuß; die Kugel fuhr dem Gefangenen mitten durch die Stirn; er, der gestern noch so lebenslustig war, sank als Leiche nieder.
Jetzt untersuchte Gerard die Kleider des Toten. Er fand weder eine Brieftasche, noch sonst Geschriebenes, wohl aber Uhr, Börse und Ringe; das alles ließ er stecken. Nun betete er ein stilles Vaterunser, gab das Pferd des Toten frei, sprang auf das seinige und brauste davon. Sein Gewissen machte ihm nicht den geringsten Vorwurf.
Dieser einstige Schmied war im Laufe der Jahre ein ausgezeichneter Präriemann geworden. Er saß auf seinem Pferd bis gegen Mittag, dann fing er sich von der ersten besten Herde, an der er vorüberkam, ein anderes ein. Und so ging es immer im Galopp fort, bis er am nächsten Tag, kurz vor Anbruch des Abends, Chihuahua vor sich liegen sah.
Er durfte sich weder bei Tag in die Stadt wagen, noch des Abends offen durch die ausgestellten Posten gehen, sondern mußte sich mit Lebensgefahr einschleichen. Darum band er sein Pferd im Wald fest und wartete die Dunkelheit ab. Dann näherte er sich der Stadt, in welcher er jedes Haus und jeden Schlich kannte.
5. Kapitel
Nur einem solchen Mann wie Gerard konnte es gelingen, durch die Postenketten und über die aufgeworfenen Befestigungen hinwegzugelangen. Bald fand er sich an einer Reihe von Gärten, die ihm alle bekannt waren, voltigierte vorsichtig über den Zaun eines derselben, duckte sich zur Erde nieder und stieß dreimal den Ruf des schwarzköpfigen Geiers aus, wenn er aus dem Schlaf erwacht. Dieses Zeichen schien nicht gehört worden zu sein, denn er mußte es wiederholen, ehe er ein Pförtchen gehen hörte und eine dunkle Frauengestalt langsam herbeikam, um in kurzer Entfernung stehenzubleiben und mit unterdrückter Stimme zu fragen:
»Wer ist da?« – »Mexiko«, antwortete er. – »Und wer kommt?« – »Juarez.« – »So warte ein wenig.«
Nach diesen Worten entfernte sich die Gestalt und kehrte erst nach Verlauf von wohl einer Viertelstunde zurück. Jetzt aber kam sie ganz zu Gerard heran und sagte:
»Hier ist das Gewand; den Weg habe ich freigemacht.«
Mit diesen Worten reichte sie ihm eine Mönchskutte, die er über sein Gewand zog, und fuhr dann fort:
»Heute müßt Ihr Euch doppelt in acht nehmen.« – »Warum?« – »Sie hat den Major zu sich bestellt.« – »Das ist mir lieb. Ist er bereits bei ihr?« – »Nein. Er kommt erst nach zwei Stunden.« – »Gut. Hier ist meine Büchse, bewahre sie sorgfältig auf.« – »Wann kehrt Ihr zurück?« – »Das weiß ich noch nicht. Ich werde dich wecken, wenn ich komme.«
Gerard schlug darauf die Kutte um sich zusammen und schritt nach links davon, wo sich in der Mauer eine kleine Tür befand, die bereits offenstand. Er trat in einen Hof, an dessen Seite sich ein Säulengang hinzog. Eine schmale Stiege führte hinauf, nach der Stelle, wo der Hof am dunkelsten war. Er stieg sie empor und fand dort oben in einem Winkel eine Holztür geöffnet. Hier trat er ein, ging im Finstern abermals durch einige bereits geöffnete Türen und stand endlich vor einer, die verschlossen war. Er klopfte an, und ein lautes, von einer Silberstimme gerufenes »Herein!« antwortete. Zugleich wurde ein Riegel zurückgeschoben, und die Tür tat sich auf.
Ein glänzendes, blendendes Lichtmeer flutete ihm entgegen, und mitten in diesem See von Glanz und Licht stand eine Frauengestalt, deren Schönheit ganz unmöglich zu beschreiben war. Es wäre kein Wunder gewesen, wenn sich jeder, der sie in dieser Toilette gesehen, vor ihr niedergeworfen hätte.
Ein beispiellos reiches, schwarzes Lockenhaar war auf einem wahren Feenköpfchen zu einer hohen Krone geordnet und flutete doch noch immer über die Hüften hernieder, und dieses herrlichen Schmuckes wert war jeder einzelne Teil der hohen, königlichen Gestalt. Keine Maria Theresia, Katharina oder Kleopatra, keine Melusina oder Märchenkönigin war mit diesem Weib oder Mädchen zu vergleichen, das eine Toilette trug, so einfach und doch ausgesucht, daß man sie staunend bewundern mußte. Da lag kein Puder auf den Wangen; da war nichts imitiert an der herrlichen Gestalt, und doch hätte man kaum glauben mögen, daß die Natur fähig sei, ein Weib in solch poetischer Vollendung zu schaffen.
Wie arm und gering stand dagegen der Präriejäger vor ihr, der im letzten Zimmer seine Kutte wieder abgeworfen hatte. Und doch hielt er seine Gestalt stolz erhoben, und doch leuchtete ihre Augen vor Glück und Wonne, ihn bei sich zu sehen. Sie trat ihm entgegen und gab ihm beide Hände.
»Endlich, endlich wieder einmal, lieber Gerard«, rief sie. »Ich danke dir, daß du mir diese Freude machst. Komm, laß dich küssen!«
Sie umarmte ihn und küßte seinen Mund mit der Innigkeit einer glücklichen Braut, während er sich nicht veranlaßt fühlte, diesen Kuß zu erwidern. Sie zog ihn dann nach dem Diwan, setzte sich neben ihn, umschlang ihn mit den Armen und legte ihr Köpfchen, dieses von einem Maler gar nicht wiederzugebende Köpfchen, an sein Herz.
So saßen sie da, er in seiner alten, schmutzigen, blutgetränkten Bluse und sie in dem kostbaren Seidenkleid.
»Du wolltest ausgehen, wie ich sehe?« nahm er endlich kalt das Wort. – »Ja. Ich wollte zwei Stunden zur Tertullia – Gesellschaftsvergnügen—, und dann erwarte ich den Major. Doch verzichte ich herzlich gern auf das Vergnügen, wenn ich nur das Glück habe, dich bei mir zu sehen.« – »Auf welches Vergnügen willst du verzichten?« lächelte er. »Auf die Tertullia oder den Major?« – »Auf das erstere; der Besuch des Majors ist kein Vergnügen.« – »Ich glaube es.« – »Und dieser häßliche Kapitän … ah, weißt du, daß er seit mehreren Tagen nach auswärts ist?« – »Wohin denn?« – »Niemand weiß es.« – »Auch der Major nicht?« – »Nein.« – »Aber der Kommandant muß es doch wissen!« – »Jedenfalls.« – »So ist dies ein böses Zeichen für uns.« – »Ah, für uns? Inwiefern?« – »Der Kapitän ist mit einer geheimen Rekognoszierung betraut worden, und der Kommandant hat dies dem Major verschwiegen; dies ist jedenfalls ein unfehlbarer Beweis, daß er letzterem mißtraut und ihn nicht für verschwiegen hält.« – »Von diesem Gesichtspunkt aus habe ich die Angelegenheit noch gar nicht betrachtet. Ich sehe, daß du scharfsinniger bist als ich, lieber Gerard.« – »Ein anderes Mal bist du klüger. Wir müssen uns eben ergänzen.« – »So möchte ich wissen, wohin der Kapitän gegangen ist. Ich muß es auf alle Fälle zu erfahren suchen und werde mich da an den Kommandanten halten und ihm morgen abend eine Unterredung gewähren, bei der du zugegen sein und den Lauscher machen sollst.« – »Das geht nicht, denn ich muß unbedingt diese Nacht noch wieder fort.« – »O weh! Ist deine Eile so dringend geboten?« – »Sehr dringend. Ich habe seit gestern nacht oder vielmehr seit vorgestern abend ohne Unterbrechung auf ungesäuerten Pferden gesessen und wohl gegen fünfzig geographische Meilen zurückgelegt. Daraus magst du sehen, wie dringlich die Sache ist.« – »Du Ärmster!« sagte sie, ihm die Wangen zärtlich streichend und seinen Mund küssend. »Du wirst dich dabei noch aufreiben. Du hast gar nicht geschlafen?« – »Nein.« – »Und mußt diesen Weg in derselben Weise ohne Schlaf zurücklegen?« – »Freilich. Doch ich habe eine eiserne Konstitution; ich werde es aushalten.« – »Aber wenn du heute schon fort mußt, so wirst du morgen