Moderne Geister. Georg Brandes

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Moderne Geister - Georg Brandes

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mich zur Zeit der deutsch-französischen Kriegserklärung in London auf und da ich das Glück hatte, dort mit einigen unparteiischen Männern von grosser politischer Einsicht zu verkehren, ahnte ich früher als meine französischen Bekannten all' das Missgeschick, das der Krieg über Frankreich bringen würde. Bei meiner Rückkehr nach Paris war man dort voller Hoffnung und Zuversicht, ja man legte bekanntlich sogar einen Uebermuth an den Tag, der jeden Fremden unheimlich berühren musste. Dieser Uebermuth wurde jedoch nicht von den Männern der Wissenschaft getheilt. Noch war es zu keiner Schlacht gekommen; aber schon die Nachricht von dem Selbstmord Prévost-Paradol's in Nordamerika hatte einen Jeden, der ihn kannte und es wusste, wie genau die Vorbereitungen und Hilfsquellen Frankreichs dem Verfasser von „La France nouvelle“ bekannt seien, mit den peinlichsten Vorgefühlen erfüllt. Denn Niemand bezweifelte, dass er, wenn auch nach einem Fieberanfall, so doch mit vollem Bewusstsein und vollem Vorsatz Hand an sich gelegt habe. Dass er nicht einfach sein Abschiedsgesuch als Gesandter eingab, hatte – so schien es – darin seinen Grund, dass er allzu stolz war, um überhaupt jemals einen Irrthum einzuräumen; er that es nicht einmal in einem Wortwechsel; und jetzt hatte er den dreifachen Irrthum begangen: an die Aufrichtigkeit der konstitutionellen Bestrebungen des Kaisers zu glauben, den Posten als Gesandter in Washington zu suchen und endlich diesen Posten nicht sogleich aufzugeben, als die hässliche Komödie der allgemeinen Abstimmung im Mai bewies, was die konstitutionellen Velleitäten des Kaisers zu bedeuten hatten. Jetzt kam die Kriegserklärung, die ihm mit dem Untergang Frankreichs gleichbedeutend vorkam, und er zog den Tod einer Stellung vor, in der er nicht verbleiben konnte, und aus welcher er sich nicht ohne eine Demüthigung, die ihm schlimmer als der Tod war, zu ziehen vermochte. Aber dieser einsame Pistolenschuss, der über den Ocean als ein Signalschuss der vielen Hunderttausende schrecklicher Salven ertönte, erschütterte alle die Jugendfreunde und Genossen Prévost-Paradol's. Taine, der eine kurze Reise nach Deutschland gemacht hatte um Materialien für einen Aufsatz über Schiller zu sammeln, der durch den Krieg vereitelt wurde, war durch den Gedanken an das Bevorstehende schmerzlich bewegt. „Ich komme eben aus Deutschland“, sagte er, „und habe mit so vielen arbeitsamen, zum Theil ausgezeichneten Männern gesprochen. Wenn ich bedenke, wie viel Mühe es kostet, ein Menschenkind zu gebären, es zu pflegen, zu erziehen, zu unterrichten und auszustatten, wenn ich ferner bedenke, wie viele Kämpfe und Beschwerden es selbst aushalten muss, um sich für das Leben vorzubereiten, und dann erwäge, wie alles dieses jetzt als ein Haufe blutigen Fleisches in eine Gruft geworfen werden soll, wie kann ich dann anders als trauern! Mit zwei Regenten von der Art Louis Philippe's hätten wir dem Krieg entgehen können; mit zwei Capitaines, wie Bismarck und Louis Napoleon, war er nothwendig“. Er war damals der erste Franzose, den ich die Möglichkeit der deutschen Ueberlegenheit in Betracht ziehen hörte.

      Dann kamen Schlag auf Schlag die ersten Nachrichten von grossen Niederlagen, nur gleich nach der Botschaft von der Schlacht bei Weissenburg durch falsche Siegesgerüchte unterbrochen. Düster und traurig war die Stimmung der Stadt an den Tagen, als die Proklamationen an den Strassenecken von geschlagenen Heeren und verlorenen Schlachten erzählten, aber fürchterlicher noch war die Stimmung in Paris an jenem 6. August, da die erste Hälfte des Tages in tollem Siegesrausche, die andere Hälfte in verschämter Abspannung verging – wie gross würde erst die Beschämung gewesen sein, wenn man von der in derselben Stunde gelieferten Schlacht bei Wörth etwas geahnt hätte! Als sich am frühen Morgen die Nachricht von einem grossen gewonnenen Siege verbreitete, bedeckte ganz Paris sich mit Fahnen; alle Leute gingen mit kleinen Flaggen an dem Hut; alle Pferde hatten kleine Flaggen an der Stirn. Ich sass vor einem Café dem Hôtel de Ville gegenüber und betrachtete die mit Hunderten von Fahnen geschmückten Häuser des Platzes, als plötzlich durch das Fenster eines mir nahen Hauses eine Hand sich zeigte, die eine herausgestellte Fahne zurückzog. Ich werde nie diese Hand und diese Bewegung vergessen. So gering der Vorgang war, er machte mich stutzig, denn diese Hand hatte etwas so trauriges, so enttäuschtes in ihrer Bewegung, dass mir augenblicklich der Gedanke kam: Die Siegesnachricht muss falsch sein! … Bald zeigten sich ringsum in den Fenstern Hände, die Fahnen hereinzogen, und in einer Viertelstunde war der ganze Flaggenschmuck wie weggeweht: Wie nackt die Häuser aussahen! Eine Proklamation der Regierung hatte eben erklärt, „dass heute durchaus nichts vom Kriegsschauplatz verlaute und dass die Polizei auf den Spuren der Verbreiter falscher Nachrichten sei, um sie strengstens zu bestrafen“. Die Verbreiter falscher Nachrichten! Als ob nicht die hungernde Phantasie und die schmachtende Sehnsucht der grossen Stadt die einzigen Schuldigen wären!

      Ungefähr eine Woche später, am 12. August, traf ich Renan, der vor der festgesetzten Zeit vom hohen Norden zurückgekommen war. Er fasste meine Hand und drückte sie mit beiden Händen. Ich habe ihn nie so bewegt gesehen. Drauf nahm er meinen Arm und ging eine volle Stunde mit mir Strasse auf Strasse ab. Er war verzweifelt, dies triviale Wort ist das einzig passende. Er war ausser sich vor Erbitterung. „Nie“, sagte er, „wurde ein unglückliches Volk so wie das unsrige von Dummköpfen regiert. Man sollte glauben, dass der Kaiser einen Anfall von Wahnsinn gehabt hätte. Aber er ist von den verächtlichsten Schmeichlern umringt; ich kenne hohe Offiziere, die es sehr wohl wussten, dass die preussischen Kanonen unsere gepriesenen Mitrailleusen übertreffen, die es aber dem Kaiser zu sagen nicht wagten, weil er sich mit diesen Sachen selbst beschäftigt, ein bischen an den Entwürfen gezeichnet hat, was in der offiziellen Sprache so ausgedrückt wird, dass er der Erfinder des Geschützes ist. Nie war so wenig Kopf (si peu de tête) in einem Ministerium des Kaisers; er hat es selbst eingesehen; ich kenne Jemand, dem er es gesagt hat, und dann führt er Krieg mit solch einem Ministerium. Hat man jemals solche Tollheit gesehen, ist es nicht herzzerreissend? Wir sind ein Volk, das für lange Zeiten aus dem Sattel geworfen ist. Und nun zu denken, dass alles, was wir Männer der Wissenschaft in fünfzig Jahren aufzubauen bestrebt waren, mit einem Schlage zusammengestürzt ist, die Sympathien zwischen Volk und Volk, das gegenseitige Verständniss, das fruchtbare Zusammenarbeiten. Wie tödtet ein solcher Krieg die Wahrheitsliebe! Welche Lüge, welche Verläumdung des einen Volkes wird nun nicht auf's neue in den nächsten fünfzig Jahren mit Begierde von dem andern geglaubt werden und sie für unüberschauliche Zeiten von einander trennen! Welche Verzögerung des europäischen Fortschritts! In hundert Jahren werden wir nicht wieder aufführen können, was diese Menschen an einem Tage heruntergerissen haben“. Mehr als irgend einen andern musste die Spaltung der beiden grossen Nachbarn Renan schmerzen, der in Frankreich so lange als Vertreter der deutschen Bildung gestanden hatte. Niemand konnte sich auch mit grösserer Dankbarkeit über die deutsche Kultur aussprechen als Renan. Einer seiner Lieblingswendungen war: „Es gibt nichts, das so viel bergen kann, wie ein deutscher Kopf“. Er stellte in Abrede, dass die Deutschen als Volk von irgend einer Rechtsidee beseelt seien, er schien sie persönlich wenig zu mögen, aber von ihrer hohen Intelligenz sprach er immer mit Achtung. Nur schrieb er den Süddeutschen in jeder anderen Richtung als der administrativen, eine weit höhere Begabung als den Norddeutschen zu, eine Auffassung, die von der Mehrheit der gebildeten Franzosen getheilt wird. Das Verhältniss erscheint ihnen analog dem, welches zwischen den Piemontesen und den übrigen Italienern besteht.

      Bekanntlich hat man des öfteren behauptet, Renan hätte alles den Deutschen, vornehmlich Strauss zu verdanken. Wer mit dem letzteren nur einigermassen vertraut ist, wird die Unrichtigkeit dieser Behauptung erkennen. Ist doch er es vielmehr, der in seiner späteren Zeit sich in Bezug auf Form und Charakter der Darstellung stark von Renan beeinflussen liess. Die zweite Auflage von Strauss „Leben Jesu“ hat offenbar an dem entsprechenden Werke Renans ihr Vorbild.

      Renan erzählte von seiner Reise. „Wir waren in Bergen, als die erste zweideutige Nachricht über den drohenden Krieg uns von Frankreich zukam. Keiner von uns wollte die Sache für möglich halten. Der Prinz und ich sahen einander an. Er, der einen so seltenen und scharfen Verstand hat, sagte nur: „Das können sie nicht!“ und gab Befehl, dass wir weiter reisen sollten. Wir segelten nach Tromsöe. Als wir dahin kamen, lagen da zwei Depeschen an den Prinzen, eine von seinem Sekretär in Paris und eine andere von Emile Ollivier mit diesen Worten: Guerre inévitable! Wir hielten einen kurzen Rath, aber so unsinnig kam uns die Sache vor, nachdem Leopold von Hohenzollern seine Kandidatur zurückgezogen hatte, so unmöglich schien uns dieser Vorwand, der ganz Europa und besonders ganz Deutschland gegen uns aufhetzen musste, und endlich – so grosse Lust hatten wir, nach Spitzbergen zu segeln und ‚das grosse Eis‘ zu sehen, dass wir uns entschlossen,

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