Śnieżka musi umrzeć. Nele Neuhaus

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Śnieżka musi umrzeć - Nele Neuhaus Gorzka Czekolada

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am 14.12.1945, wenige Wochen nach der Ankunft in der neuen Heimat, tödlich. In Erinnerung an ihre Tochter fing meine Mutter hemmungslos an zu weinen. Ihre Trauer war mir vorher nie so bewusst gewesen. Ich stand geschockt neben ihr, denn ich konnte mit meinen drei Jahren ihre Gefühle nicht deuten. Nach einer Weile nahm sie mich in den Arm und wir trösteten uns gegenseitig. Meine Mutter blieb mit mir noch lange am Grab und erzählte mir von Barbara. Sie war unfassbar traurig, dass sie meiner Schwester nicht helfen konnte und erzählte mir von dem schrecklichen Krieg und versuchte mir zu erklären, warum hier auf dem Friedhof die toten Menschen vergraben werden müssen. Ich war bestimmt schon vorher mit meiner Mutter am Grabe meiner Schwester gewesen, aber dieser Besuch war für mich so intensiv, dass mir dieses Ereignis als erste Kindheitserinnerung auf Dauer geblieben ist und ausgerechnet heute nach dem Fußballspiel wieder hoch kam. So wie mir muss es vielen Menschen hier auf dem Friedhof ergangen sein. Denn es lagen hier tausende Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft. Zu ihnen zählen die deutschen Soldatengräber beider Weltkriege, die Gräber und Ehrenanlagen der verschiedenen Nationen, wie Britische, Niederländer, Polnische und Sowjetische, die Bombenopfergräber, die Gräber jüdischer Opfer und die der Widerstandskämpfer im Dritten Reich. Allein 36.918 Bombenopfer wurden in einem Sammelgrab und 2.282 in Einzelgrabanlagen beigesetzt. Der parkähnliche Friedhof war ein würdevoller Bestattungsort, konnte aber die Trauer und Sorgen der Hinterbliebenen nicht mindern.

      So sorgte sich auch meine Mutter vehement um ihre Kinder. Auch wenn ihr jüngster Sohn nachts alleine auf das Plumsklo hinter dem Haus im dunklen Garten gehen musste und der sich dort abenteuerliche Dinge einfallen ließ. Nun erreichte ich kleiner Schwindler mit schlechtem Gewissen ziemlich spät unser Zuhause. Offiziell kam ich ja von unserem heimischen Sportplatz. Hoffentlich wollte niemand von mir hören wie das Endergebnis vom Spiel der BSV 1. Herrenmannschaft lautete. Auf dem Heimweg, von der Straßenbahnkehre bis zu unserem Haus hatte ich leider niemanden getroffen, den ich danach hätte fragen können. Nach dem 20-minütigen Fußmarsch kam ich also ohne Kenntnis wie das Spiel endete zu Hause an. Die Frage danach wäre mir schon recht peinlich gewesen. Zum Glück blieb mir dieses Problem erspart. Wie so häufig waren die anderen Familienmitglieder mit sich selbst beschäftigt. Keiner nahm Notiz von meiner Heimkehr und so brauchte ich mich auch nicht zu erklären. Obwohl ich zu gerne meinen größeren Brüdern von dem Erlebnis, Uwe Seeler live beim Fußballspielen zu sehen, erzählt hätte, zumal sie auch noch in erster Linie Sympathie zum Berliner Fußballclub Hertha BSC hatten. Das ging aber leider nicht, sonst hätte ich in den folgenden Zeiten mit Sicherheit nicht mehr die Möglichkeit gehabt, mich hin und wieder unbemerkt von der Familie abzusetzen, um alleine zu den Spielen meines HSV am Rothenbaum zu fahren.

      In unserem Garten, im Pfirsichweg, stand tatsächlich ein Pfirsichbaum. Er war wohl schon recht alt und beschenkte uns kaum noch mit leckeren, süßen Früchten. Dieser Baum stand von seiner Art her alleine in mitten von Apfel-, Birnen-, Pflaumen- und Kirschbäumen, die sich darin übertrumpften in der Erntezeit uns mit vielen wohlschmeckenden, saftigen Früchten zu erfreuen. Dieser ziemlich große, aber schon gebrechliche Pfirsichbaum mit spröden Ästen, erschien mir als Kind, war einsam unter den anderen Bäumen in unserem Garten. Genauso erging es mir, dem Hamburger in der Berliner Familie. Es gab für mich niemanden, dem ich meine Sorgen, Nöte oder Wünsche anvertrauen konnte. Meinen Eltern und Geschwistern fehlten die Fähigkeiten mir, dem Kleinsten, zuzuhören um mich gegebenenfalls mit Ratschlägen zu versorgen oder auch einmal Mitgefühl an meinen Problemen zu zeigen. Ich hatte einfach die Klappe zu halten und musste mich immer hinten anstellen. Andere Vertrauenspersonen waren für mich nicht vorhanden. So teilte ich mir meine Gefühle mit dem Pfirsichbaum und erzählte ihm auch, dass ich heute heimlich beim HSV am Rothenbaum war. Ich berichtete ihm, wie ich ganz alleine mit der Straßenbahn zum Fußballstadion gefahren bin. Wie ich mich durch die Zuschauer gedrängelt habe, um das Geschehen auf dem Fußballfeld sehen zu können. Voller Begeisterung schwärmte ich dann noch einmal von den Spielern des HSV, wie sie gerannt und gekämpft haben und wie der Torwart unglaubliche Paraden gezeigt hatte, damit der Ball nicht in seinem Netz zappelte. Die alten Zweige des Baumes bewegten sich heftig im Wind, als ob er mir ein Lob und Anerkennung aussprechen wollte. Ich fühlte mich vom Pfirsichbaum sehr geehrt. Zur Belohnung kickte ich noch mit ihm eine Weile, denn sein dicker Stamm war ein verlässlicher Rückpassgeber und beim Daddeln stellten wir uns in meiner Fantasie immer wieder die für mich offenen Fragen: „Warum steht dieser Pfirsichbaum hier in unserem Garten und nicht irgendwo in China?“ „Und in was für eine Familie, die mit welchem Schicksal behaftet ist, bin ich eigentlich hinein geboren worden ?“

      Berlin

      Mit der Einigung zum kleindeutschen Nationalstaat durch den preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, die am 18. Januar 1871 vollzogen wurde, wurde Berlin Hauptstadt des deutschen Nationalstaats. Am 02. September 1873 wurde dann feierlich die imposante 66,89 Meter hohe Siegessäule eingeweiht. Anlass dieses Bauwerkes waren Siege der Preußen im Deutsch-Dänischen Krieg 1864, dem Deutschen Krieg 1866 gegen Österreich sowie im Deutsch-Französischen Krieg 1870/71. Die Feierlichkeiten wurden zum dritten Jahrestag der siegreichen Schlacht bei Sedan, wo die französischen Truppen kapitulierten und der französische Kaiser Napoleon III. gefangen wurde, abgehalten. Oben auf der Säule thront eine weibliche Figur, die krönende Viktoria, die in der griechischen Mythologie als Siegesgöttin bekannt ist. Im Berliner Volksmund wird die Figur als Goldesel bezeichnet. In dieser nationalen Hochstimmung entwickelte sich Berlin seit Mitte des 19. Jahrhundert zu einem industriellen Zentrum. Die Hauptstadt des Deutschen Reiches wurde zur viertgrößten Metropole der Welt. Dies steigerte erheblich die Nachfrage nach Arbeitskräften und bewirkte einen starken Zustrom von Menschen nach Berlin.

      So lockte die Aussicht auf allgemein verbesserte Lebensverhältnisse auch die Eltern meines Vaters und meiner Mutter zur Jahrhundertwende um 1900 aus den landwirtschaftlich geprägten Preußischen Provinzen zum Arbeiten nach Berlin.

      Die Vorfahren meines Großvaters lebten in Magdeburg. Erstmals urkundlich erwähnt wurde die Stadt im Jahr 805, von dort ging die Christianisierung der Slaven vom Erzbistum Magdeburg aus, das Otto I. im Jahr 968 begründete. Er war erster Kaiser des Heiligen Römischen Reiches. Im Mittelalter erlangte die Hansestadt große Bedeutung durch das gleichnamige Stadtrecht und war im Spätmittelalter eine der größten deutschen Städte. Nach der völligen Verwüstung im Dreißigjährigen Krieg wurde Magdeburg zur stärksten Festung des Königreich Preußen ausgebaut und 1882 mit über 100.000 Einwohnern zur Großstadt erklärt.

      Aber bessere Arbeitsbedingungen lockten auch meinen Opa Max, Sohn eines Chemikers, in die Millionenstadt Berlin. Hier lernte er dann seine Frau, meine Oma Luise kennen und lieben. Sie kam aus Breslau. Die Stadt gehörte im Geburtsjahr meiner Oma 1882 zum Deutschen Kaiserreich. Ihr Vater war gebürtig aus Kärnten in Österreich. Opa Max und Oma Luise gründeten eine Familie und bekamen fünf Kinder. Vier Mädchen und einen Jungen. Dieser Junge, mein Vater, war das älteste der Kinder und wurde 1902 in Rixdorf bei Berlin geboren.

      Auch die Eltern meiner Mutter, Opa Paul und Oma Pauline verliebten sich in Berlin und heirateten dort. Deren Vorfahren kamen aus der Oberlausitz, aus dem Oberspreewald, aus Thüringen und aus Sachsen, also aus preußischen Provinzen. Pauline und Paul bekamen zwei Kinder. Einen Sohn und eine Tochter. Diese Tochter, meine Mutter, war ebenfalls die älteste der Kinder und wurde 1907 in Berlin geboren. Die Kindheit erlebte sie und ihr Bruder noch im 1871 gegründeten Deutschen Kaiserreich im Königreich Preußen, das seit 1888 von Kaiser Wilhelm II. regiert wurde.

      Dann erschütterte das Attentat von Sarajevo die Welt. Am 28. Juni 1914 wurden der Thronfolger Österreich-Ungarns, Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin Sophie, Herzogin von Hohenberg bei ihrem Besuch in Sarajevo von Gavrilo Princip, einem Mitglied der serbisch-nationalistischen Bewegung Mlada Bosna, ermordet. Das Attentat in der bosnischen Hauptstadt löste die Julikrise aus, die schließlich zum Ersten Weltkrieg führte. Welche katastrophalen Folgen das Attentat hatte, war dem bosnischen Serben, dessen Ziel Herzegowina von der österreichisch-ungarischen Besatzung zu befreien war und den Zusammenschluss der südslawischen Provinzen mit Serbien und Montenegro zur Bildung Jugoslawiens zu erreichen, wohl nie in den Sinn gekommen.

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