Familie Dr. Norden Staffel 1 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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»Das ist eine schwierige Sache«, sagte er schließlich, als Fee geendet hatte. »Stell dir vor, die Eltern werden der Kindesmißhandlung beschuldigt und es stellt sich heraus, daß es nicht stimmt. Wie stehen diese Leute dann da?«
»Andererseits kann es wirklich sein, daß der kleine Dominik geschlagen wird, und keiner unternimmt etwas. Das ist ja das große Problem in unserer Gesellschaft, daß niemand mehr Verantwortung für den anderen übernehmen will.«
»Ich verstehe deine Sorgen, mein Schatz. Ich muß eine Nacht darüber schlafen, vielleicht fällt mir eine Lösung ein.«
*
Jenny Behnisch hatte einen recht ruhigen Kliniktag hinter sich. Es hatte keine Notfälle gegeben, und die angesetzten Operationen waren ausnahmslos gut verlaufen. Bevor sie jedoch nach Hause ging, warf sie noch einen Blick in das Zimmer von Nicola Brandon. Es war halb sechs Uhr abends, und die Schwester sammelte gerade die Tabletts wieder ein, auf denen das Abendessen serviert worden war. Nicola hatte nichts davon angerührt.
»Sie müssen etwas essen, um wieder zu Kräften zu kommen, Frau Brandon«, sagte Jenny, als sie das Tablett unberührt dort stehen sah.
»Das habe ich ihr auch gesagt, aber sie wollte nichts. Ich kann sie doch nicht zwingen.« Im Laufe des Nachmittags war etwas Leben in sie zurückgekehrt und sie hatte ein paar, wenn auch belanglose Sätze mit ihrer Tochter gesprochen.
»Ich habe keinen Hunger, Frau Doktor«, sagte Nicola mit matter Stimme.
»Heute kann ich das verstehen. Sie haben viel Schlimmes erlebt in letzter Zeit. Aber morgen müssen Sie mir versprechen zu essen.«
»Ich habe so viele Probleme. Wie könnte Essen da eine Rolle spielen?« Nicola war verzweifelt.
»Sie werden sehen, wenn Sie wieder zu Kräften gekommen sind, ist alles halb so schlimm. Und Sie haben ja Ihre Tochter. Sie wird Ihnen sicher helfen, nicht wahr?« Jenny wandte sich an Sarah.
»Natürlich werde ich das, Mum. Das weißt du doch, oder?« Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Ach, mein Kind. Ich habe mir deine Zukunft ganz anders vorgestellt.«
»Das macht doch nichts. Wir werden gemeinsam einen Weg finden, da bin ich mir sicher.«
»Ich will dich in diese Sache nicht hineinziehen. Damit muß ich allein fertig werden.«
»Bitte machen Sie sich nicht so viele Gedanken, Frau Brandon. Das ist in Ihrer Situation nicht gut für Sie.« Mitfühlend drückte Jenny die Hand ihrer Patientin. Dann verabschiedete sie sich von Nicola und winkte Sarah unmerklich, damit sie ihr nach draußen folgte.
»Sie müssen Ihre Mutter positiv beeinflussen. Einen Nervenzusammenbruch darf man nicht auf die leichte Schulter nehmen.«
»Ich weiß es. Aber was soll ich tun?« fragte Sarah verzweifelt.
Jenny erkannte, daß auch sie am Ende ihrer Kräfte war.
»Sie sollten jetzt ins Hotel gehen und sich ausruhen. Sie müssen zuerst an sich denken. Denn wer sollte Ihrer Mutter jetzt helfen, wenn nicht Sie. Und das können Sie nur, wenn Sie stark sind. Tun Sie etwas für sich.«
Sarah nickte müde. Der lange Flug und die Aufregung des Tages steckten ihr in den Gliedern. Sie verabschiedete sich von Jenny und ging dann noch einmal zu ihrer Mutter. Nicola hatte die Augen geschlossen und schien tief zu schlafen. So schloß Sarah leise die Tür und machte sich auf dem Weg zur Pforte. Dort ließ sie sich ein Taxi rufen, das sie ins Hotel bringen sollte. Während der Fahrt dachte sie an Sebastian und bereute es fast, sich mit ihm verabredet zu haben. Sie fühlte sich ausgelaugt und nicht in der Lage, am Abend auszugehen.
Als sie hinter sich die Tür des Hotelzimmers schloß, seufzte Sarah vor Erleichterung. Es war erst kurz nach sechs, so blieb noch Zeit für ein heißes Bad. Danach würde es ihr bessergehen. Sie öffnete die Minibar, während das Wasser in die Wanne lief und nahm schließlich eine Flasche Piccolo heraus. Mit dem Glas in der Hand stieg sie in den duftenden Schaum und versuchte für ein paar Minuten, all ihre Sorgen hinter sich zu lassen.
Eine Stunde später erschien Sarah wie versprochen in der Hotelhalle. Sie hatte sich ein wenig zurechtgemacht, das rotbraune Haar zu einer raffinierten Frisur zusammengesteckt und sich dezent geschminkt. Dazu trug sie einen dunklen schlichten Hosenanzug, der ihre schlanke Figur unterstrich.
Sebastian, der schon auf sie wartete, war sprachlos, als er Sarah erblickte, obwohl sie nicht geschminkt gewesen war, aber er hatte nicht geahnt, daß sie sich in eine solche Schönheit verwandeln konnte. Fast wurde er verlegen, was selten bei ihm vorkam, und er war froh, das auch er einen Anzug gewählt hatte.
Sarah begrüßte ihn freundlich. »Hallo Sebastian. Gut sehen Sie aus«, sagte sie und warf ihm einen anerkennenden Blick zu. Er hatte die lockigen schwarzen Haare, die er etwas länger trug, nach hinten gekämmt, was ihm ein seriöses Aussehen gab, doch die braunen Augen blitzten immer noch jugendhaft.
»Danke für das Kompliment, das ich gleich zurückgeben darf. Ich bin geblendet.«
»Sie sehen gar nicht aus wie ein Charmeur«, lachte Sarah. Auf einmal war sie froh, der Versuchung nicht nachgegangen und die Verabredung abgesagt zu haben.
»Das bin ich eigentlich auch nicht«, gab Sebastian ehrlich zu und bot Sarah den Arm. »Wohin darf ich Sie führen, meine Dame?« fragt er.
»Wenn ich ganz ehrlich bin, würde ich gern hier im Hotel bleiben. Im Prospekt habe ich gesehen, daß es hier eine gemütliche kleine Bar gibt, wo man auch eine Kleinigkeit essen kann.«
»Warum nicht.« Sebastian war sofort einverstanden. Er war ein feinfühliger Mensch und hatte schnell erkannt, daß Sarahs Augen müde wirkten. So stiegen sie hinab in die Bar und stellten fest, da der Hotelprospekt nicht übertrieben hatte. Es war wirklich sehr gemütlich, und sie fanden einen Platz, wo man auch eine Kleinigkeit essen kann.
Für beide wurde es ein wirklich schöner Abend. Zwar sprachen sie viel über Sarahs Probleme doch Sebastian war sehr geschickt darin, in allem den guten Kern zu sehen. So fühlte sie sich wirklich viel hoffnungsvoller, als er sie schließlich gegen elf Uhr zum Aufzug brachte.
»Es war ein wunderbarer Abend mit dir, Sarah«, sagte er mit rauher Stimme und sah ihr tief in die Augen. Sarah wurde ganz aufgeregt und senkte den Blick.
»Du hast mich mit deiner Sichtweise der Dinge sehr weiter geholfen. Ich sehe alles viel positiver als noch heute Nachmittag. Ich bin froh, daß ich unsere Verabredung nicht abgesagt habe.«
»Das hättest du getan?« fragte Sebastian mit gespieltem Entsetzen. Sarah mußte lachen, als sie seine weit aufgerissenen Augen sah
»Es ist schön, wenn du lachst«, sagte er und wurde wieder ernst. »Ich möchte dein Lächeln gern noch öfters sehen. Darf ich?« fragte er leise.
»Ja!« antwortete Sarah. Dann drückte sie ihm schnell einen Kuß auf die Wange und stieg in den Aufzug, der eben gekommen war. Die Türen schlossen sich und sie träumte von einem Wiedersehen, während sie nach oben fuhr.
*
In dieser Nacht lag Nicola lange wach und grübelte.