Wilderer und Jäger Staffel 1. Anne Altenried
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»Mein Lothar ist abgestürzt«, entrang es sich den bleichen Lippen der Frau. Dann sank sie in die Arme ihres Mannes.
Ludl, der sich mit der Tochter am Ende der kleinen Schar gehalten hatte, rannte fluchend nach vorne. Seit vier Jahren verdiente er sich sein Brot als Bergführer, und noch nie hatte es einen Unglücksfall gegeben. Sein guter Ruf stand auf dem Spiel, wie er wusste.
Der jüngere Sohn hielt sich entsetzt eine Hand an den Mund und wies mit ausgestrecktem Arm zum Rand des schmalen Steigs hin. Ludl beugte sich vor und sah hinunter. Zu seiner großen Erleichterung hing der fünfzehnjährige Tiedemannsohn an einem vorstehenden Felszacken, den er beim Absturz mit den Händen hatte greifen können. Jammernd blickte er nach oben. Tränen der Angst rannen über die noch kindlichen Wangen.
»Festhalten, Bub!«, rief ihm der Bergführer zu. »Ich komm hinunter und hol dich.«
Ludl riss sich den Rucksack vom Rücken, kniete nieder und schwang sich über den Rand des Steigs. Vater Tiedemann war damit beschäftigt, die Gemahlin aus der Ohnmacht zurückzuholen. Der jüngere Sohn stand zitternd an seinem Platz und wagte nicht, sich zu bewegen. Nur die Tochter, sie schien die stärksten Nerven der Familie zu besitzen, beobachtete aufmerksam die Rettungsaktion des erfahrenen Berggängers.
Dieser hatte es nicht leicht. Die Wand fiel fast senkrecht ab, und der Fels war nicht sehr griffig. Er bot wenig Halt für die Finger und Stiefelspitzen. Doch mit dem Gespür des echten Naturmenschen fand Ludl immer wieder eine winzige Vertiefung, in der er sich festkrallen konnte. Trotz angespannter Konzentration schimpfte er fortwährend vor sich hin, dass man mit diesen Lausbübln allweil Ärger und Verdruss habe. Tiefer und tiefer arbeitete er sich. Die Sonne brannte auf ihn herab und trieb ihm Schweißtropfen aus jeder Pore.
»Ja net loslassen, Bürschl!«, warnte er noch einmal den Unglücksraben, von dem ihn noch etwa zwei Meter trennten. Dann war er endlich bei ihm.
Der Junge stierte ihn aus aufgerissenen Augen an. Die Zähne klapperten hörbar. Ludl packte einen Arm des Fünfzehnjährigen und legte ihn sich um den Hals. In diesem Moment lösten sich die Finger der anderen Hand kraftlos von dem Felszacken. Der Bub stieß einen Schreckensschrei aus. Er hing an Ludls Rücken und bewegte haltsuchend die Beine. Ludl verspürte einen Ruck, der ihm beinahe das Gleichgewicht geraubt hätte. Zum Glück hatte seine linke Schuhspitze in einem kleinen Felsloch einen festen Stand.
»Klammere dich an mich, Bürschl, so fest du kannst«, keuchte der Bergführer.
Behutsam begann er mit dem Aufstieg. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich höher. Das Hemd klebte ihm nass am Leib. Von der Stirn rann ihm Schweiß in die Augen, brannte höllisch und trübte die Sicht.
Er mobilisierte alle Kräfte, die in seinem muskulösen Körper schlummerten. Doch als er nach mehr als einer halben Stunde den schmalen Steig erreichte, blieb er erschöpft und ausgepumpt am Boden liegen.
Pfeifend entwich der Atem seiner Kehle.
Kurz vorher war Frau Tiedemann aus der Ohnmacht erwacht. Sie sprang auf, stieß gutturale Laute aus, die wohl ihre unsägliche Freude über die Rettung ihres totgeglaubten Sohnes ausdrücken sollten und schloss ihn schluchzend in die Arme. Schließlich hing die ganze Familie an dem wiedergekehrten Fünfzehnjährigen, betätschelte ihn und küsste ihn von allen Seiten.
Mathilde wandte sich als Erste dem immer noch am Boden liegenden Bergführer zu, dessen keuchender Atem sich langsam beruhigte. Sie kniete neben ihm nieder und strahlte ihn an. Ludl richtete den Oberkörper auf und stützte sich auf die Ellbogen. Er schnitt eine Grimasse.
»Das ist grad noch mal gut gegangen«, kam es heiser von seinen Lippen. »Wenn so was öfter passieren tät, könnt ich meinen Beruf glatt an den Nagel hängen.«
»Sie sind ein Held, Herr Neudecker«, flüsterte das Mädchen schwärmerisch. »Nur ein sehr mutiger Mann wagt eine solche Tat.«
Geschmeichelt verzog Ludl den Mund zu einem Lächeln und legte seine Hand ungeniert auf das Knie des Mädchens. »Unsereiner weiß sich im Gebirge halt zu helfen«, sagte er selbstgefällig. »Und net bloß auf dem Berg«, fügte er vieldeutig hinzu und drückte das Mädchenknie.
Inzwischen hatten die übrigen Familienmitglieder den Sohn, der nur ein paar Schürfwunden erlitten hatte, losgelassen und eilten zu Ludl hin. Dieser stand auf, schüttelte mehrere Hände und musste sogar einen schmatzenden Kuss der Mutter über sich ergehen lassen, wobei er einen sehnsüchtigen Blick zur Tochter hinschickte. Er fürchtete schon, auch von Vater Tiedemann eine Zärtlichkeit hinnehmen zu müssen, doch dieser zückte seine Brieftasche und entnahm dieser ein paar Geldscheine. Ludl sträubte sich nicht und ließ die Geldscheine nach einem markigen Händedruck in seiner Joppentasche verschwinden.
Der Abstieg wurde fortgesetzt, und die Tiedemanns gaben erleichterte Ausrufe von sich, als der Felssteig hinter ihnen lag und sie hinaustreten konnten auf den nicht sehr steilen Latschenhang. Die Tochter hielt sich wieder in der Nähe des Bergführers und haschte bei jeder kleinen Unebenheit des Bodens Hilfe suchend nach dessen Hand.
»Jetzt kann nichts mehr schiefgehen«, hauchte sie mit einem gekünstelten Augenaufschlag.
»Das will ich hoffen«, brummte der breitschultrige Bergführer. »Eigentlich hätt ich Ihrem Bruder eine gehörige Ohrfeige herunterhauen sollen. Aber der Angstbeutel hat mir schließlich leidgetan. Doch leicht hätt es zwei Bergtote geben können.«
»Wie schrecklich«, hauchte die Mollige. »Hat Sie mein Vater wenigstens entsprechend belohnt?«
»Er schon«, grinste Ludl, »aber von Ihnen, blitzsauberes Dirndl, hab ich bloß ein Händeschütteln geerntet. Ist das net ein bissel wenig?«
Eine sanfte Röte stieg in das rundliche Mädchengesicht. »Ich besitze nicht viel Geld«, gestand sie. »Aber zwanzig Euro …«
»Dummes Hascherl«, fiel er ihr rasch ins Wort. »Bei Ihnen denk ich doch net ans Geld. Aber ein paar herzhafte Busserl hätt ich mir schon gewünscht.«
Das rundliche Gesicht rötete sich noch mehr. »Ich kann Sie doch nicht vor den Augen der Eltern küssen«, flüsterte sie verschämt.
Zusammen mit ihr übersprang er eine ziemlich flache Felsrinne, wobei seine Hand helfend um ihre Hüfte gelegt war. Wie unabsichtlich glitten seine Finger etwas tiefer. Er lachte sie an. »Die Eltern soll man beim Busseln freilich net zuschauen lassen«, gab er vergnügt zu. »Aber ihr seid doch im ›Federerbräu‹ einquartiert. Wenn’s erlaubt ist, komm ich heut nach Einbruch der Dunkelheit in Ihr Kammerl, Mathilde.« In bittendem Ton fügte er hinzu: »Bloß auf ein Viertelstünderl. Wegen der Busserl.«
Erschrocken schüttelte sie den Kopf. »Das ist unmöglich. Wenn das mein Vater merken würde …« Sie schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
»Der merkt garantiert nix«, beruhigte sie der Bergführer. »Wie man verstohlen in eine Dirndlkammer kommt, das weiß ich ziemlich gut.«
Damit hatte er nicht übertrieben. Gar mancher weibliche Feriengast war von ihm schon zu nächtlicher Stunde betreut worden. Da die meisten Urlauber im »Federerbräu« wohnten, war ihm das Haus vertraut.
Mathilde fand keine Gelegenheit mehr, darauf zu antworten, denn ein großer, hagerer