Gesammelte Werke. Джек Лондон
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke - Джек Лондон страница 211
»Ja, das stimmt sicher«, sagte Ruth leise. »Aber es ist sehr traurig. Sie ist ein so hübsches Mädchen.«
Er blickte sie an und sah, daß ihre Augen von Mitleid schimmerten. Und dann erinnerte er sich, daß er sie liebte, und vergaß alles über dem Erstaunen, daß sein Glück ihm erlaubte, sie zu lieben und Arm in Arm mit ihr zu einem Vortrag zu gehen.
»Wer bist du, Martin Eden?« fragte er sein Spiegelbild am Abend, als er wieder in seinem Zimmer war. Er betrachtete sich lange und neugierig. »Wer bist du? Was bist du? Wo gehörst du hin? Eigentlich gehörst du zu Mädchen wie Lizzie Connolly. Du gehörst zu den Heerscharen der Schwerarbeitenden, zu allem, was niedrig und gewöhnlich und unschön ist. Du gehörst zu Ochsen und Sklaven, in eine schmutzige, stinkende Umgebung. Hier ist zum Beispiel das verdorbene Gemüse. Diese Kartoffeln sind verfault. Riech an ihnen, pfui Teufel! – Riech an ihnen. Und doch darfst du die Bücher öffnen, darfst du schöne Musik anhören, lernen, schöne Gemälde zu lieben, rein und korrekt zu sprechen, Gedanken zu denken, die kein anderer deines Standes denkt, und doch darfst du dich losreißen von den Arbeitstieren und den Frauen von der Art Lizzie Connollys und eine blasse, zarte Frau lieben, die millionenmal über dir steht und bei den Sternen lebt. Wer bist du? Und was bist du? Donnerwetter! Und wie weit wirst du es bringen?«
Er drohte seinem Spiegelbild mit der geballten Faust und setzte sich auf den Bettrand, um eine Weile mit offenen Augen zu träumen. Dann aber nahm er sein Mathematikbuch und sein Aufgabenheft vor, und bald verlor er sich in quadratischen Gleichungen, und die Stunden flogen, die Sterne verblaßten, und schließlich strömte das graue Licht der Dämmerung durch sein Fenster.
Dreizehntes Kapitel
Die Schar wortreicher Sozialisten und Arbeiterphilosophen, die an warmen Nachmittagen im Stadtpark ihre Ansichten entwickelten, hatten die große Entdeckung verschuldet. Ein oder zweimal monatlich, wenn Martin auf dem Wege zur Bibliothek durch den Park fuhr, stieg er vom Rade und hörte ihre Betrachtungen an, und jedesmal riß er sich nur widerstrebend von ihnen los. Die Diskussionen waren auf einen einfacheren Ton abgestimmt, als er am Tische des Herrn Morse herrschte. Die Männer waren nicht ernst und würdevoll. Sie ließen sich leicht hinreißen, begannen zu schimpfen, und unanständige Ausdrücke gehörten zur Tagesordnung. Einige Male hatte er sie die Fäuste gebrauchen sehen. Und doch kam es ihm vor – er wußte nicht, weshalb –, als wäre der Gedankengang dieser Männer irgendwie mit seinem eigenen verwandt. Ihr Wortkampf wirkte weit anregender auf seinen Verstand als der beherrschte, ruhige Dogmatismus des Herrn Morse. Diese Männer, die eine furchtbare Sprache sprachen, wie Verrückte gestikulierten und die gegenseitigen Ideen mit primitiver Erbitterung bekämpften, waren irgendwie lebendiger als Herr Morse und sein Freund Herr Butler.
Martin hatte mehrmals den Namen Herbert Spencer im Park nennen hören, eines Nachmittags aber tauchte ein Schüler Spencers auf – ein schäbiger Vagabund mit einem schmutzigen Mantel, der bis zum Halse zugeknöpft war, um zu verbergen, daß er kein Hemd trug. Es wurde ein mächtiger Kampf ausgefochten, unzählige Zigaretten geraucht, ein Meer von Tabakssaft ausgespien, und während alledem hielt der Vagabund sich ausgezeichnet, selbst als ein sozialistisch eingestellter Arbeiter wütend rief: »Es ist kein Gott außer dem Unergründlichen, und Herbert Spencer ist sein Prophet.« Martin wußte nicht recht, um was es ging, als er aber dann zur Bibliothek fuhr, war das Interesse für Herbert Spencer in seiner Seele wachgerufen, und weil der Vagabund immer wieder auf »Die ersten Grundsätze« zurückgekommen war, ließ Martin sich diesen Band geben.
So begann die große Entdeckung. Er hatte es schon einmal mit Spencer versucht, damals hatte er aber die »Prinzipien der Psychologie« gewählt und war hoffnungslos darin steckengeblieben. Er war nicht imstande gewesen, das Buch zu verstehen, und hatte es ungelesen wieder abgeliefert. Als er aber abends in seinem Zimmer, nachdem er Mathematik und Physik gearbeitet und sich an einem Sonett versucht hatte, zu Bett gegangen war, begann er in den »Ersten Grundsätzen« zu lesen. Als der Morgen kam, las er immer noch. Er hatte keinen Schlaf finden können, und an diesem Tage schlief er auch nicht. Er lag auf seinem Bett, bis er müde wurde. Dann versuchte er es auf dem harten Fußboden, las, auf dem Rücken liegend, indem er das Buch hoch hielt oder sich von einer Seite auf die andere drehte. Diese Nacht schlief er, und am nächsten Tage ging er wieder an seine Schreibarbeit. Dann aber lockte das Buch ihn von neuem, und er las den ganzen Nachmittag, vergaß alles, ja sogar, daß es der Nachmittag war, den Ruth ihm zu schenken pflegte. Er kam erst zum Bewußtsein der Welt, in der er lebte, als Bernard Higginbotham die Tür aufriß und fragte, ob er glaubte, daß sie eine Gastwirtschaft betrieben.
Eine heftige Neugier hatte von jeher Martin Eden beherrscht. Er suchte Wissen, und dieser Wunsch war es, der ihn abenteuernd durch die Welt getrieben hatte. Jetzt aber lernte er von Spencer etwas, das er nicht gewußt hatte, und das er nie hätte lernen können, und wenn er in alle Ewigkeit die Welt durchschweift hätte. Er war nur über die Oberfläche der Dinge hinweggeglitten, hatte losgerissene Phänomene bemerkt, Bruchstücke von Tatsachen gesammelt, kleine, oberflächliche Verallgemeinerungen gemacht – alles ohne die geringste Verbindung – in einer launischen, chaotischen Welt, in der Einfall und Zufall regierten. Den Flug der Vögel hatte er gesehen und verständnisvoll darüber geredet; nie aber war ihm eingefallen, eine Erklärung des Vorgangs zu suchen, der die Vögel als organische, fliegende Mechanismen entwickelt hatte. Nie hatte er geahnt, daß es einen solchen Vorgang gab. Nie hatte er darüber nachgedacht, daß die Vögel je entstanden waren. Sie waren eben dagewesen. Sie existierten eben.
Und wie mit den Vögeln, so mit allen anderen Dingen. Seine unwissenden, unvorbereiteten philosophischen Versuche waren fruchtlos gewesen. Die mittelalterliche Metaphysik Kants hatte ihm nicht den Schlüssel zu einer Erkenntnis geschenkt, sondern nur dazu beigetragen, ihn an seiner eigenen Intelligenz zweifeln zu lassen. Glücklicherweise war sein Versuch, die Entwicklungslehre zu studieren, auf einen hoffnungslos technischen Band von Romanes beschränkt gewesen. Er hatte nichts verstanden, und seine einzige Ausbeute war die Überzeugung gewesen, daß die Entwicklungslehre eine krachdürre Theorie war, die eine Schar kleiner Menschen mit Hilfe eines ungeheuren, unverständlichen Wortaufwandes aufgestellt hatten. Und jetzt erfuhr er, daß die Entwicklungslehre nicht nur bloße Theorie, sondern ein anerkannter Prozeß war, daß die Wissenschaftler sich nicht mehr darum stritten, sondern daß die einzige Meinungsverschiedenheit der Art der Entwicklung galt.
Und nun kam dieser Spencer, organisierte alles Wissen für ihn, brachte alles auf die Einheit zurück und entrollte vor seinem erstaunten Blick ein Universum, das ebenso konkret und leichtverständlich war wie die Schiffsmodelle, die die Seeleute in Glasflaschen verfertigen. Es gab keine Laune und keinen Zufall. Alles war Gesetz. Einem Gesetz zufolge flog der Vogel, und ebendemselben Gesetz zufolge hatte gärender Schlamm sich gezerrt und gewunden, hatte Beine und Flügel bekommen und war ein Vogel geworden.
Martin war in seinem geistigen Leben von Höhe zu Höhe gestiegen, und jetzt stand er höher als je. Alles Verborgene entblößte ihm seine Geheimnisse. Das Verständnis berauschte ihn. Nachts, wenn er schlief, lebte er im Traum in mächtigen Bildern unter Göttern, und am Tage, wenn er wach war, ging er wie ein Schlafwandler einher und starrte geistesabwesend auf die Welt, die er soeben entdeckt hatte. Bei