Gesammelte Werke. Джек Лондон
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Martin suchte ein paar Erzählungen heraus, bedachte sich einen Augenblick und legte dann »Seelyrik« dazu. Dann bestiegen sie an einem warmen Juninachmittag ihre Räder und fuhren in die Berge. Es war das zweitemal, daß er allein mit ihr draußen war, und als sie durch die warme balsamische Luft fuhren, die ein schwaches Lüftchen vom Meer angenehm kühlte, fühlte er in tiefster Seele, daß es eine wunderschöne und wohlgeordnete Welt, und daß es herrlich war, zu leben und zu lieben. Sie ließen ihre Räder am Wegrand stehen und kletterten auf einen Erdhügel, dessen sonnenverbranntes braunes Gras einen herben Duft von trockener Süße und Zufriedenheit ausströmte.
»Das hat seine Pflicht getan«, sagte Martin, als sie sich niederließen, sie auf seinen Mantel, während er sich der Länge nach auf den warmen Boden warf. Er sog den süßen Duft ein, der ihm ins Gehirn drang und seine Gedanken sich mit rasender Schnelligkeit vom Besondern zum Allgemeinen bewegen ließ. »Das hat seine Existenzberechtigung erwiesen«, fuhr er fort und strich zärtlich über das trockene Gras. »Es erwachte zu Leben und Ehrgeiz in den traurigen Regengüssen des letzten Winters, es kämpfte gegen die Gewalt des Frühlings, blühte und lockte Insekten und Bienen an, verstreute seine Saat, vervielfältigte sich mit seinen Pflichten und seiner Welt und –«
»Warum sehen Sie die Dinge immer so schrecklich praktisch an?« unterbrach sie ihn.
»Wohl weil ich die Entwicklungslehre studiert habe. Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich erst ganz vor kurzem zu sehen begonnen.«
»Aber mir scheint, Sie verlieren die Schönheit aus den Augen, wenn Sie so praktisch sind, vernichten die Schönheit wie Knaben, die Schmetterlinge fangen und den Staub von den schönen Flügeln streifen.«
Er schüttelte den Kopf.
»Schönheit hat ihre Bedeutung, aber die habe ich bisher nicht gekannt. Ich habe Schönheit nur als etwas Sinnloses betrachtet, als etwas, das nur schön war, ohne Sinn und Verstand. Ich wußte nichts von Schönheit. Jetzt aber weiß ich Bescheid, oder vielmehr, ich fange an, Bescheid zu wissen. Dies Gras ist schöner in meinen Augen, seit ich den geheimen chemischen Prozeß von Sonne, Regen und Erde kenne, der es zu Gras macht. In der Lebensgeschichte jedes Grashalms ist Romantik – ja, und etwas von einem Märchen. Schon der Gedanke daran erweckt mich zu neuem Leben. Wenn ich an die Wechselwirkung zwischen Kraft und Stoff und an den ganzen heftigen Kampf denke, dann habe ich das Gefühl, als könnte ich ein Epos über das Gras schreiben.«
»Wie gut Sie sprechen!« sagte sie geistesabwesend, und er bemerkte, daß sie ihn forschend ansah.
Im selben Augenblick war er ganz in Verwirrung und Verlegenheit, und das Blut stieg ihm in Hals und Stirn.
»Ich hoffe, daß ich sprechen lerne«, stotterte er. »Ich habe das Gefühl, daß ich so vieles in mir habe, das ich sagen möchte. Aber es ist alles so groß. Ich weiß nicht, wie ich das, was wirklich in mir ist, ausdrücken soll. Zuweilen ist mir, als hätte die ganze Welt, das ganze Leben sich in mir niedergelassen und verlange von mir, daß ich seine Sache redete. Ich fühle – ach, ich kann es nicht beschreiben – ich fühle seine Größe, wenn ich aber spreche, wird es wie das Stammeln eines kleinen Kindes. Es ist etwas Großes, Gefühle, schriftlich oder mündlich, in Worte umzusetzen, so daß sie sich beim Leser wieder in dasselbe Gefühl umsetzen. Das ist eine Großtat. Sehen Sie, ich vergrabe mein Gesicht im Grase, und der Hauch, den ich durch meine Nase einatme, läßt mich von tausend Gedanken und Phantasien zittern. Es ist ein Hauch des Universums, den ich einatme; ich kenne Singen und Lachen, Erfolg und Schmerz, Kampf und Tod; und ich sehe Gesichte, die in meinem Gehirn entstehen, zum Beispiel beim Duft des Grases, und ich möchte es so gern Ihnen und der ganzen Welt erzählen. Aber wie soll ich es? Die Zunge ist mir gebunden. Jetzt aber habe ich versucht, Ihnen durch gesprochenes Wort zu erklären, welche Wirkung der Duft des Grases auf mich ausübt, aber es ist mir nicht geglückt. Ich habe es nur gerade in unbeholfenen Wendungen andeuten können. Ich finde selbst, daß meine Rede der reine Unsinn ist. Und dennoch ist es, als wollte die Sehnsucht, zu erzählen, mich ersticken. Ich« – er hob mutlos die Hände – »es ist unmöglich. Es ist nicht zu verstehen. Es läßt sich nicht mitteilen.«
»Aber Sie sprechen gut«, beharrte sie. »Denken Sie nur daran, welche Fortschritte Sie in der kurzen Zeit unserer Bekanntschaft gemacht haben. Charles Butler ist ein angesehener politischer Redner, und doch haben Sie neulich beim Essen ebensogut gesprochen wie er. Er war nur beherrschter, Sie erregen sich so sehr. Aber das geht vorüber, wenn Sie mehr Übung haben. Sie können ein ausgezeichneter politischer Redner werden, Sie können es weit bringen ... wenn Sie wollen. Sie haben etwas von einer Herrschernatur. Sie besitzen sicher Führereigenschaften, und es ist sehr möglich, daß Sie mit allem, was Sie in die Hand nehmen, ebenso große Erfolge erzielen, wie Sie es in der Grammatik getan haben. Sie könnten ein tüchtiger Jurist, ein hervorragender Politiker werden. Nichts hindert Sie, ebensoviel zu erreichen wie Charles Butler. Nur nicht den schlechten Magen!« fügte sie lächelnd hinzu.
So sprachen sie weiter, und immer wieder betonte sie mit ihrer gewohnten Beharrlichkeit, aber stets sanft und freundlich, die Notwendigkeit einer soliden Grundlage für alle Erziehung und den Vorteil von Latein für jede Karriere. Sie beschrieb ihr Ideal des erfolgreichen Mannes, und es war in den Hauptzügen das Bild ihres Vaters, hin und wieder mit einigen unverkennbaren Strichen und einem gewissen Kolorit Charles Butlers. Auf dem Rücken liegend, lauschte er eifrig, sah sie an und freute sich über jede Bewegung ihrer Lippen, wenn sie sprach. Aber sein Gehirn war nicht so empfänglich. Es war nichts Verlockendes an dem Bilde, das sie vor ihm entrollte, und er spürte eine dumpfe Enttäuschung in sich aufsteigen, während seine nagende Sehnsucht nach ihr gleichzeitig quälender als je wurde. Nicht ein einziges Mal erwähnte sie seine Schriftstellerei, und die Manuskripte, die er mitgebracht hatte, um sie ihr vorzulesen, lagen unbeachtet auf der Erde.
Als sie schließlich schwieg, warf er einen Blick auf die Sonne, maß ihre Höhe über dem Horizont und nahm seine Manuskripte in die Hand, wie um ihre Aufmerksamkeit darauf hinzulenken.
»Das hatte ich ganz vergessen«, sagte sie schnell. »Und ich bin so neugierig darauf.«
Er las ihr eine Erzählung vor, die seiner eigenen Meinung nach eine seiner besten war. Sie hieß »Der Wein des Lebens«, und der Rausch, der sich beim Schreiben in sein Hirn geschlichen hatte, schlich sich jetzt beim Vorlesen in seine Stimme. Die originelle Idee hatte einen gewissen Zauber, und dieser Zauber wurde noch erhöht durch Sprache und Behandlung. Alle Glut und Leidenschaft, die ihn beim Schreiben beseelt hatten, wurden in ihm neugeboren, und er ließ sich so davon hinreißen, daß er blind und taub für die Fehler der Arbeit war. Aber das war Ruth nicht. Ihr geübtes Ohr hörte sofort alle Schwächen und Übertreibungen des Anfängers, das zu starke Betonen gewisser Dinge, und sie merkte sofort, wenn der Rhythmus eines Satzes hinkte oder in die Brüche ging. Sonst achtete sie kaum auf den Rhythmus, außer wenn er zu pathetisch wurde, und dann wirkte er unangenehm dilettantisch auf sie. Das war das Urteil, das sie schließlich über die Erzählung fällte: dilettantisch, wenn sie es auch nicht mit diesem Worte sagte. Statt dessen begann sie, als er fertig war, auf die weniger wesentlichen Fehler hinzuweisen, und sagte, daß die Erzählung ihr gefiele.
Aber er war doch sehr enttäuscht! Ihre Kritik war berechtigt. Das gab er zu, aber er hatte das Gefühl, daß er ihr seine Arbeit nicht vorgelesen hatte, damit sie wie ein Schulaufsatz korrigiert würde. Die Einzelheiten waren bedeutungslos, die konnte er leicht ändern, das war bald zu lernen. Er hatte ins Leben hineingegriffen und versucht, es auf dem Papier niederzulegen. Und das war es gewesen, was er ihr vorgelesen hatte, nicht Satzbau und Semikolons. Er hatte gewollt, daß sie das Große, das sein Besitz war, das er mit eigenen Augen gesehen, aus seinem eigenen Hirn gegriffen und mit eigenen Händen hier zu Papier gebracht hatte, mit ihm fühlte. Nun, das war ihm nicht geglückt. Vielleicht hatten die Redakteure recht. Er hatte das Große zwar gefühlt, es aber nicht wiederzugeben