Gesammelte Werke. Джек Лондон
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Was den tiefsten Eindruck auf Martin machte, war der Zusammenhang in allem Wissen. Er war wißbegierig gewesen, und alles, was er gelernt hatte, lag wohlverwahrt in abgetrennten Erinnerungsräumen seines Gehirns. So besaß er einen ungeheuren Wissensvorrat in bezug auf alles, was die See betraf. Auch über die Frauen wußte er viel. Aber diese beiden Gegenstände hatten keine Beziehung zueinander gehabt. Zwischen den zwei Räumen in seiner Erinnerung hatte keine Verbindung bestanden. Daß irgendwelche Verbindung zwischen einer hysterischen Frau und einem im Sturm beigedrehten Schoner bestehen sollte, würde er für lächerlich und unmöglich gehalten haben. Herbert Spencer aber hatte ihm gezeigt, daß es nicht nur nicht lächerlich, sondern daß ein Zusammenhang geradezu unumgänglich war. Alles hatte Beziehungen zueinander, von dem Stern, der draußen in der Öde des leeren Raums funkelte, bis zu den Myriaden Atomen im Sande unter seinen Füßen.
Dieser neue Gedanke war eine ewige Quelle der Verwunderung für Martin, und er beschäftigte sich andauernd damit, die Beziehungen zwischen allen Dingen unter der Sonne und jenseits der Sonne aufzuspüren. Er stellte Listen über die zusammenhanglosesten Dinge auf und kannte weder Rast noch Ruhe, ehe es ihm glückte, die Beziehungen zwischen ihnen aufzudecken – Beziehungen zwischen Liebe, Poesie, Erdbeben, Feuer, Klapperschlangen, Regenbogen, Edelsteinen, Mißgeburten, Löwengebrüll, Sonnenuntergängen, Gasbeleuchtung, Kannibalismus, Schönheit, Mord, Tabak, Hebeln und Stützpunkten. So brachte er Einheitlichkeit in das Universum, durchforschte es eindringlich und wanderte all seine Winkelwege und Buschpfade, nicht als ängstlicher Reisender mitten unter Mysterien und auf ein unbekanntes Ziel zu, sondern als ein Mann, der seine Beobachtungen machte, seinen Standpunkt feststellte und mit allem, was man wissen konnte, vertraut wurde. Und je mehr er wußte, desto leidenschaftlicher bewunderte er Universum und Leben und sein eigenes Leben mitten darin.
»Du Narr,« rief er seinem Spiegelbild zu, »du wolltest schreiben und versuchtest zu schreiben und hattest dabei nichts in dir, worüber du schreiben konntest. Was hattest du in dir? Einige kindische Vorstellungen, ein paar halbfertige Gefühle, eine Menge unverdaute Schönheit, ein dunkles Chaos von Unwissenheit, ein Herz, das vor Liebe zerspringen wollte, und einen Ehrgeiz, der so mächtig wie deine Liebe und so müßig wie deine Unwissenheit war. Und du wolltest schreiben: du, der erst auf der Schwelle dessen steht, wo es etwas zu schreiben gibt! Du wolltest Schönheit schaffen, aber wie konntest du es, ohne zu wissen, was Schönheit bedeutet? Du wolltest vom Leben schreiben, obwohl du nicht die Eigenschaften kanntest, die das Wesen des Lebens ausmachen. Du wolltest von der Welt und vom Sinn des Daseins schreiben, obwohl die Welt für dich wie ein chinesisches Puzzlespiel war, und alles, was du hättest schreiben können, sich um den Sinn des Daseins gedreht haben würde, von dem du nichts wußtest. Aber tröste dich, Martin, mein Junge. Du wirst noch schreiben. Du weißt ein wenig, ein kleines bißchen, und du bist auf dem Wege zu größerem Wissen. Wenn du Glück hast, wirst du schließlich alles wissen, was man wissen kann. Dann kannst du schreiben.«
Er erzählte Ruth von seiner großen Entdeckung und ließ sie an all der Freude und Verwunderung teilnehmen, die ihn erfüllte. Aber sie schien nicht so begeistert zu sein. Sie hörte ihm zu, ohne etwas zu sagen, und schien das alles irgendwie aus ihren eigenen Studien zu wissen. Die Entdeckung machte auf sie nicht den gleichen tiefen Eindruck, und er würde sich darüber gewundert haben, hätte er nicht gedacht, daß es für sie nicht ebenso neu und frisch wie für ihn war. Er erfuhr, daß Norman und Arthur an die Entwicklungslehre glaubten und Spencer gelesen hatten, wenn er auch anscheinend keinen tieferen Eindruck auf sie gemacht hatte, während der junge Mann mit der Brille und dem langen Haar – Will Olney hieß er – spöttische Bemerkungen über Spencer machte und den Ausspruch »Es ist kein Gott außer dem Unergründlichen, und Herbert Spencer ist sein Prophet« wiederholte.
Aber Martin verzieh ihm seine spöttische Bemerkung, denn es begann ihm aufzugehen, daß Olney nicht in Ruth verliebt war. Später machte er infolge mehrerer kleiner Vorfälle die geradezu verblüffende Entdeckung, daß Olney nicht allein nicht in Ruth verliebt war, sondern geradezu einen positiven Unwillen gegen sie hegte. Das verstand Martin nicht. Es war für ihn ein Phänomen, das mit den anderen Phänomenen im Universum nicht übereinstimmte. Immerhin tat ihm der junge Mann leid wegen des großen Mangels in seinem Wesen, der ihn verhinderte, Ruths Feinheit und Schönheit richtig einzuschätzen. Sie machten mehrmals an Sonntagen Ausflüge zu Rad in die Berge, und Martin hatte reichlich Gelegenheit, den bewaffneten Frieden, der zwischen Ruth und Olney herrschte, zu beobachten. Olney hielt sich zu Norman, wodurch Arthur und Martin mit Ruth zusammenkamen, und Martin war ihm dafür dankbar. Diese Sonntage waren Martins große Tage – hauptsächlich, weil er mit Ruth zusammen war, aber auch, weil sie ihn mit den jungen Leuten ihrer Klasse auf eine Stufe stellte. Er entdeckte, daß er, trotzdem sie sehr viele Jahre mit regelmäßigen Studien verbracht hatten, im Begriff war, ihnen geistig ebenbürtig zu werden, und die Stunden, die er der Unterhaltung mit ihnen opferte, waren für ihn gleichzeitig Übungsstunden in der so eifrig studierten Grammatik. Die Bücher über Lebensart hatte er beiseitegelegt; er verließ sich darauf, durch Beobachtung lernen zu können, wie er sich zu benehmen hätte.
Mit Ausnahme der Augenblicke, in denen er sich von seiner Begeisterung hinreißen ließ, war er stets auf der Hut, achtete genau auf das, was sie taten, und sah ihnen alle Feinheiten ihres gesellschaftlichen Auftretens ab.
Der Umstand, daß Spencer so wenig gelesen wurde, war eine Zeitlang eine Quelle der Verwunderung für Martin. »Herbert Spencer –,« sagte der Mann in der Bibliothek, »gewiß, ein großer Geist.« Aber der Mann schien tatsächlich nicht zu wissen, welche Bedeutung der große Geist hatte. Eines Tages beim Mittagessen brachte Martin in Gegenwart Charles Butlers das Gespräch auf Spencer. Ruths Vater griff die Freidenkerei des englischen Philosophen heftig an, gestand aber, »Die ersten Grundsätze« nicht gelesen zu haben, während Charles Butler sagte, daß er sich nicht im geringsten für Spencer interessierte, nie eine Zeile von ihm gelesen hätte und ausgezeichnet ohne ihn fertig geworden wäre. Martin begann zu zweifeln, und wäre er weniger selbständig gewesen, so würde er unter dem Einfluß der allgemeinen Ansicht Herbert Spencer aufgegeben haben. Andererseits aber fand er die Erklärungen Spencers überzeugend, und ein Aufgeben Spencers war, wie er sich ausdrückte, dasselbe, wie wenn ein Seefahrer Kompaß und Chronometer über Bord werfen wollte. So ließ Martin sich denn nicht abschrecken und vertiefte sich in ein gründliches Studium der Entwicklungslehre; bald beherrschte er den Gegenstand immer mehr und schöpfte immer neue Beweise aus den bestätigenden Zeugnissen voneinander unabhängiger Autoren. Und je mehr er studierte, desto größere Ausblicke erhielt er über Wissensgebiete, die noch nicht untersucht waren, und sein Bedauern, daß der Tag nur vierundzwanzig Stunden hatte, wurde allmählich chronisch.
Eines Tages entschloß er sich daher, Algebra und Geometrie aufzugeben; mit Trigonometrie hatte er sich gar nicht erst eingelassen. Dann strich er die Chemie von seinem Studienplan und behielt nur noch die Physik.
»Ich bin kein Spezialist«, entschuldigte er sich bei Ruth. »Ich will auch nicht versuchen, Spezialist zu werden. Es gibt zu viele Spezialgebiete, als daß ein Mann in einem langen Leben auch nur ein Zehntel davon beherrschen könnte. Ich muß mich darauf beschränken, allgemeines Wissen zu sammeln; wenn ich die Arbeit von Spezialisten brauche, kann ich in ihren Büchern nachschlagen.«
»Aber das ist nicht dasselbe wie der Besitz der Kenntnisse«, wandte sie ein.
»Der Besitz ist nicht notwendig. Ich ziehe Nutzen aus