Gesammelte Werke. Джек Лондон
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»Wie schrecklich!« rief sie, als er fertig war. »Das ist furchtbar – ganz furchtbar!«
Er bemerkte mit geheimer Zufriedenheit ihr blasses Gesicht, ihre entsetzt aufgerissenen Augen und geballten Fäuste. Er hatte gesiegt. Die Phantasien und Gefühle, die in seinem Hirn wohnten, hatte er ihr übermittelt. Es hatte gewirkt. Einerlei, ob es ihr gefiel oder nicht, es hatte sie gepackt und überwältigt, hatte sie gezwungen, zu lauschen und die Einzelheiten zu vergessen.
»Das ist das Leben,« sagte er, »und das Leben ist nicht immer schön. Und doch, vielleicht, weil ich so seltsam geschaffen bin, finde ich auch hier etwas Schönes. Mir scheint, daß die Schönheit, weil sie da ist, verzehnfacht wird – –«
»Aber warum konnten Sie die arme Frau –« Sie beendete den Satz nicht, sondern brach ab: »Ach, das ist entwürdigend! Das ist nicht hübsch! Das ist schmutzig!« Einen Augenblick war ihm, als ob sein Herz stillstände. Schmutzig! Das hatte er sich nicht träumen lassen. Das war nicht seine Absicht gewesen. Die ganze Erzählung stand in Flammenbuchstaben vor ihm, und mitten in diesem Lichtmeer suchte er vergebens nach Schmutz. Dann aber begann sein Herz wieder zu klopfen. Er war nicht schuldig.
»Warum haben Sie nicht einen freundlichen Gegenstand gewählt?« sagte sie. »Wir wissen ja, daß es schmutzige Dinge in der Welt gibt, aber man braucht doch nicht –« Sie fuhr in ihrem indignierten Protest fort, aber er hörte gar nicht zu. Er lächelte bei sich, während er ihr in das jungfräuliche Gesicht sah, das so unschuldig, so überwältigend unschuldig war, daß die Reinheit auf ihn überströmte, alles irdische Begehren in ihm erstickte und ihn in einem ätherischen Strahlenglanz badete, der kühl und sammetweich wie eine Sternennacht war. Wir wissen, daß es Schmutz in der Welt gibt! Der Gedanke, daß sie etwas davon wissen wollte, belustigte ihn köstlich. Im nächsten Augenblick sah er wie eine flüchtige Vision mit zahlreichen Einzelheiten das ganze Meer von Abscheulichkeiten, das dieses Leben war, und das er kannte und immer wieder erfahren hatte, und er verzieh ihr, daß sie nicht verstanden hatte, was er meinte. Es war nicht ihre Schuld, daß sie es nicht verstand. Er dankte Gott, daß sie in solcher Unschuld geboren und groß geworden war. Er aber kannte das Leben, seine häßlichen wie seine guten Seiten, wußte, wie groß es trotz allem Schmutz, der an ihm klebte, war, und, bei Gott, er wollte der Welt sagen, was er auf dem Herzen hatte! Konnten die Heiligen im Himmel anders sein als schön und rein? Dafür schuldete man ihnen keinen Dank. Aber Heilige im Kot – ja, das war das ewige Wunder! Das war es, was das Leben lebenswert machte: moralische Größe sich aus dem Schlammpfuhl der Zeiten heben zu sehen, sich selbst zu erheben und den ersten Schimmer der Schönheit undeutlich und fern mit Augen zu sehen, die von Schmutz troffen; Kraft, Wahrheit und reiche geistige Begabung aus Schwäche, Gebrechlichkeit, Verderbnis und einem Abgrund von Bestialität emporwachsen zu sehen –
Aus dem, was sie sagte, fing er einen einzelnen, losgerissenen Satz auf.
»Der Ton, den Sie darin anschlagen, ist niedrig, und es gibt so viel Erhabenes. Denken Sie an »In Memoriam«.«
Er fühlte sich versucht, »Locksley Hall« zu erwähnen, und würde es getan haben, hätte ihn nicht eine neue Vision gepackt: das Weibchen seiner Art, das sich aus dem Urschlamm erlöst hatte und durch Tausende und aber Tausende von Jahrhunderten die Leiter des Lebens emporgekrochen war, um schließlich die oberste Sprosse zu erreichen und zu der einen zu werden, zu Ruth, die rein, schön und göttlich war, die die Fähigkeit besaß, ihn zu lehren, was Liebe war, ihn anzuspornen zu Reinheit und dem Wunsch, von der Göttlichkeit zu kosten – ihn, Martin Eden, der sich auf so seltsame Art aus dem Schmutz, aus zahllosen Fehlgriffen und Enttäuschungen erhoben hatte, um einen Ausdruck für den ewigen Schöpferdrang zu finden. Das war Romantik, das war das Wunderbare und Herrliche. Das war es, worüber er schreiben wollte, wenn er nur die Worte finden konnte. Ihr Heiligen im Himmel! – Sie waren nur Heilige und konnten selbst nichts dabei machen. Er aber war ein Mann.
»Die Kraft haben Sie,« hörte er sie sagen, »aber sie ist ungeschult.«
»Wie ein Ochse in einem Porzellanladen«, meinte er, was ihm ein Lächeln eintrug.
»Und Sie müssen Ihre Kritik entwickeln, Sie müssen Geschmack, Feinheit und Ton berücksichtigen.«
»Ich wage zuviel«, murmelte er.
Sie lächelte beifällig und setzte sich zurecht, um eine weitere Erzählung zu hören.
»Ich weiß nicht, was Sie hierzu sagen werden«, meinte er, sich gleichsam entschuldigend. »Es ist eine komische Geschichte. Ich fürchte, daß ich mein eigentliches Gebiet damit überschritten habe. Aber die Absicht war gut. Kümmern Sie sich nicht um die Einzelheiten, versuchen Sie nur, das Große darin zu erfassen. Und Größe ist darin, das ist wahr, wenn ich das auch vermutlich nicht recht einleuchtend gemacht habe.«
Er las und studierte dabei ihr Gesicht. Jetzt habe ich doch endlich Eindruck auf sie gemacht, dachte er. Sie saß regungslos, den Blick auf ihn geheftet, da und vergaß fast zu atmen, so überwältigt war sie von seiner Schöpfung. Er nannte die Geschichte »Abenteuer«, und es war die Apotheose des Abenteuers – keines Abenteuers, wie man es in Märchenbüchern liest, sondern des wirklichen Abenteuers, des gestrengen Herrn, der schrecklich in seiner Strafe und schrecklich in seinem Lohn, treulos und launisch ist und eine furchtbare Geduld und die verzweifelte Arbeit von Tagen und Nächten erfordert; des Abenteuers, das den Menschen flammenden Sonnenschein oder finsteren Tod, Durst und Hunger oder das langsame Hinsiechen und unheimliche Delirium des Faulfiebers bringt, das Blut und Schweiß, giftige Insektenstiche und kleine unwürdige Geschehnisse ins Unendliche verkettet, um schließlich in großen, herrlichen Taten zu kulminieren. Das und noch mehr war es, was er in seiner Geschichte erzählte. Und als er sie jetzt lauschen sah, glaubte er, daß es das war, was sie entflammte. Ihre Augen waren weit aufgerissen, ihre blassen Wangen nahmen Farbe an, und noch ehe er fertig war, glaubte er fast, sie stöhnen zu hören. Ja, wirklich, sie war entflammt, aber nur von ihm, nicht von der Erzählung. Aus der Erzählung machte sie sich nichts; es war die intensive Kraft, die aus seinem Körper in den ihrigen überzuströmen schien. Das Merkwürdige war, daß diese, mit seiner Kraft geladene Geschichte jetzt der Kanal war, der seine Kraft zu ihr leitete. Für sie existierte nur die Kraft selbst, nicht ihr Mittler, und wenn sie auch scheinbar von dem hingerissen war, was er geschrieben hatte, so war sie es doch in Wirklichkeit von etwas anderem, das nicht das geringste damit zu tun hatte – von einem Gedanken, der, furchtbar und gefährlich, ungerufen in ihrem Hirn Form angenommen hatte. Sie hatte sich auf dem Gedanken an eine Ehe mit ihm ertappt. Und die Kühnheit und Heftigkeit dieses Gedankens hatte sie entsetzt. Das schickte sich nicht für ein junges Mädchen. Und es glich ihr nicht. Sie hatte ihr ganzes Leben in einer Traumwelt, in einem ewigen Schlaf verbracht, und jetzt pochte das Leben mit unabweisbarer Kraft an alle Tore ihres Wesens. Ihr aufgeschreckter Verstand heischte, daß sie eiserne Riegel vorschob, gleichzeitig aber spornten ihre losgelassenen Instinkte sie an, die Tore weit aufzureißen und den fremden Gast einzulassen – diesen fremden Gast, der so süße Unruhe in ihrem Herzen weckte.
Martin wartete zuversichtlich auf ihr Urteil. Er zweifelte nicht an dem Ausfall und war ganz bestürzt, als er sie sagen hörte: »Das ist schön.«
»Ja, das ist schön«, wiederholte er nach einer kurzen Pause mit Nachdruck.
Natürlich war es schön, aber es war etwas anderes darin als nur Schönheit, etwas Großartiges, etwas, das brannte und sengte und ihm die Schönheit zur Sklavin machte. Er lag der Länge nach auf dem Boden, ohne etwas zu sagen. Aber