Gesammelte Werke. Джек Лондон
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Er sah sich weiter in seiner Jugend, wie er Tag für Tag aus der Schule heim und dann in die Gasse eilte, wo die Druckerei des Enquirer lag. Das Gehen wurde ihm schwer. Er war steif von der ewigen Prügelei. Seine Arme waren vom Handgelenk bis zum Ellbogen blau von den vielen parierten Schlägen, und hin und wieder reagierte das gepeinigte Fleisch sogar durch Beulen. Kopf und Schultern schmerzten, sein Rücken schmerzte, der ganze Körper schmerzte, und sein Gehirn war schlaff und wirr. Er spielte nicht mehr in der Schule und tat auch nichts in den Stunden. Schon daß er den ganzen Tag still an seinem Pulte sitzen mußte, war eine Qual. Ihm schienen Jahrhunderte vergangen, seit diese täglichen Schlägereien begonnen hatten, und die Zukunft wuchs mit neuen Schlägereien wie ein Alp ins Unendliche. Warum kann ich Käsgesicht nicht verprügeln, dachte er oft, das würde mich von allem Elend befreien. Es fiel ihm nie ein, sich nicht mehr zu wehren und sich von Käsgesicht verprügeln zu lassen.
Und so schleppte er sich denn Tag für Tag, krank an Leib und Seele, in die Gasse, um seinem ewigen Feinde Käsgesicht zu begegnen, der ebenso elend wie er selbst war und ebenso gern aufgehört hätte, würde nicht die ganze Schar der Zeitungsjungen zugesehen und den Stolz zu einer peinlichen Angelegenheit gemacht haben. Als sie eines Nachmittags zwanzig Minuten lang verzweifelte Anstrengungen gemacht hatten, sich nach den festgesetzten Regeln zu verhauen, die es verboten, zu treten, unterhalb des Gürtels zu treffen oder auf den andern loszuschlagen, wenn er am Boden lag, rief Käsgesicht stöhnend und wankend, ob sie jetzt nicht quitt sein könnten. Und Martin, der jetzt, den Kopf auf die Arme gelegt, dasaß, wurde von dem Bilde durchschauert, das er vor sich sah, wie er an jenem Nachmittag vor langer Zeit, selbst wankend und stöhnend und halb erstickt von dem Blut, das ihm von den zerrissenen Lippen in Mund und Hals lief, auf Käsgesicht zutaumelte, einen Mund voll Blut ausspie und, sobald er ein Wort herausbringen konnte, rief, sie würden nie quitt sein, aber Käsgesicht könne sich ja ergeben, wenn er wolle. Aber Käsgesicht ergab sich nicht, und die Prügelei nahm ihren Fortgang.
Der nächste Tag und die folgenden endlosen Tage waren Zeugen derselben ewigen Nachmittagsprügelei. Jeden Tag, wenn er die Arme hob, um loszuschlagen, schmerzten sie wahnsinnig, und die ersten Schläge, die er austeilte oder empfing, legten seine Seele auf die Folterbank, dann aber begann er gefühllos zu werden und kämpfte weiter, während er wie im Traum das große Gesicht Käsgesichts mit den brennenden tierischen Augen auf- und niederhüpfen sah. Seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf dies Gesicht – alles andere war für ihn wirbelnde Leere. Es gab nichts in der Welt außer diesem Gesicht, und er fand keine Ruhe, ehe er es nicht mit seinen blutenden Fäusten zerschmettert, oder ehe nicht die blutigen Fäuste, die zu diesem Gesicht gehörten, ihn zerschmettert hatten. Erst dann gab es Frieden. Aber aufhören – aufhören, er, Martin! – unmöglich.
Dann kam der Tag, da er sich zur Druckerei des Enquirer schleppte und kein Käsgesicht da war. Es kam auch kein Käsgesicht. Die andern Jungen beglückwünschten ihn und sagten, er hätte Käsgesicht endgültig geschlagen. Aber er war nicht befriedigt. Weder hatte er Käsgesicht noch hatte Käsgesicht ihn besiegt. Das Problem war nicht gelöst. Erst später erfuhr er, daß Käsgesichts Vater an diesem Tage ganz plötzlich gestorben war.
Dann übersprang Martin die Jahre bis zu der Nacht auf der Galerie im Theater. Er war siebzehn Jahre alt und eben von See zurückgekehrt. Es gab Streit. Ein Bursche legte sich mit einem andern an, und als Martin vermitteln wollte, sah er plötzlich in die blitzenden Augen Käsgesichts.
»Nach der Vorstellung werde ich mit dir abrechnen«, fauchte sein alter Feind.
Martin nickte. Der Aufseher näherte sich der Stelle, wo es Lärm gab.
»Nach dem letzten Akt treffen wir uns draußen«, flüsterte Martin, während seine Miene nur ungeteiltes Interesse für den Tanz auf der Bühne zeigte. Der Aufseher machte ein wütendes Gesicht und entfernte sich. »Hast du eine Bande?« fragte er Käsgesicht, als der Akt vorbei war.
»Und ob!«
»Dann muß ich auch sehen, eine zu kriegen«, verkündete Martin.
In der Pause hielt er eine Ansprache an sein Gefolge, die drei jungen Leute, die er aus der Nägelfabrik kannte, einen Eisenbahnheizer, ein Dutzend Burschen von der Boo-Bande und ebenso viele von der gefürchteten Eighteenth-and-Market-Bande.
Nach Schluß des Theaters zogen die beiden Banden ganz unbemerkt je auf einem Bürgersteig durch die Straßen, bis sie an eine stille Ecke kamen, wo sie zusammentrafen, um Kriegsrat zu halten.
»Die Eighth-Street-Brücke ist der rechte Ort«, sagte ein rothaariger Bursche, der zu Käsgesichts Partei gehörte. »Ihr könnt euch mitten darauf unter dem elektrischen Licht schlagen, und wenn die Polente von einem Ende kommt, könnt ihr euch immer nach dem andern wegmachen.«
»Also einverstanden«, sagte Martin, nachdem er sich mit dem Anführer seiner eigenen Bande beraten hatte. Die Eighth-Street-Brücke, die über einen Arm der San-Antonio-Mündung führte, war so lang wie drei gewöhnliche Brücken zusammen, und an beiden Enden befanden sich elektrische Bogenlampen. Kein Polizist konnte unbemerkt an den Lampen vorbeikommen. Es war der sicherste Ort für diese Prügelei, die jetzt wieder so lebendig vor Martins Augen stand. Er sah die beiden Banden finster und kampfbereit, jede um ihren Anführer geschart, getrennt dastehen, und er sah sich und Käsgesicht den Oberkörper entblößen. Etwas weiterhin standen zwei Mann Schmiere, um die erleuchteten Brückenenden zu beobachten. Ein Mann von der Boo-Bande hielt Martins Jacke, Hemd und Mütze, bereit, damit zu verschwinden, falls die Polizei einschreiten sollte. Martin sah sich selbst in die Mitte treten, Käsgesicht gegenüberstehen und warnend die Hand heben und hörte sich sagen:
»Hier gibt's kein Händeschütteln, verstanden? Hier geht's aufs Ganze. Es ist eine alte Geschichte, und wir schlagen uns, bis einer am Boden liegt, verstanden? Einer von uns muß erledigt werden!«
Käsgesicht wollte Einwände erheben – das sah Martin wohl –, aber sein alter Stolz war gereizt, und die zwei Banden standen dabei und sahen zu.
»Also los, komm!« antwortete er. »Was soll das Schwatzen? Ich bin dabei!«
Dann gingen sie aufeinander los wie zwei junge Stiere, in ihrer ganzen strahlenden Jugend, mit bloßen Fäusten, im Herzen Haß und den Wunsch, zu verletzen, zu verstümmeln, zu vernichten. All die qualvollen Jahrtausende, die der Mensch seit der Urzeit emporgeklommen war, waren vergessen. Nur das elektrische Licht blieb, ein Meilenstein auf dem Wege des großen menschlichen Abenteuers. Martin und Käsgesicht waren zwei Wilde aus der Steinzeit, aus den Höhlen und Baumwohnungen. Immer tiefer sanken sie in dem schlammigen Abgrund auf den Grund des Anfangs alles Lebens zurück, blind kämpfend, wie der Sternennebel in den Himmeln kämpft, wie Atome kämpfen, zusammenprallend, zurückgeschleudert und wieder und ewig zusammenprallend.
»Herrgott! Wir waren Tiere – wilde Bestien!« murmelte Martin, während er den Kampf verfolgte. Seine blendende Einbildungskraft zeigte ihn ihm wie einen Film. Er war gleichzeitig Zuschauer und Teilnehmer. Die langen Monate verfeinerter Kultur ließen ihn schaudern; dann aber verschwand die Gegenwart aus seinem Bewußtsein, die Geister der Vergangenheit überwältigten ihn, und er war wieder der Martin Eden, der soeben von See zurückgekehrt war und sich mit Käsgesicht auf der Eighth-Street-Brücke schlug. Er litt und stritt, schwitzte und blutete und triumphierte, wenn seine Fäuste trafen.
Sie waren wie zwei Wirbelstürme von Haß, die sich mit ungeheurer Gewalt umeinander drehten. Die Zeit verstrich, und die zwei feindlichen Banden wurden sehr still. Noch nie hatten sie eine solche Wildheit und Heftigkeit gesehen, und das machte sie stumm, denn sie sahen, daß die beiden Gegner noch größere Bestien waren als sie selbst. Plötzlich fühlte Martin, daß seine Backe bis zum Knochen aufgerissen wurde. Das konnten nicht bloße Fäuste allein getan haben. Er hörte ein erstauntes Murmeln, als die Zuschauer den angerichteten Schaden sahen; das Blut