Self-Development And The Way To Power. L.W. Rogers
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Als der Zug anhält, steigen viele aus. Er setzt sich auf einen der freien Plätze und genießt es, die Füße auszustrecken und den Rücken anzulehnen. Ihm gegenüber sitzt ein älterer Herr mit einer kleinformatigen Zeitung. Er trägt einen eleganten grauen Mantel und einen karierten Hut, ein echter Brite. Links von ihm: ein kurzgeschorener Kerl mit Walkman. Zur Rechten: eine Brünette, vertieft in ein Taschenbuch. Neben ihr: ein schlafender Mann, der etwas Indianisches an sich hat. Aufgrund der Fransenjacke oder der Adlernase unter den pechschwarzen Haaren? Winnetou oder der letzte Mohikaner, ohne Pfeil und Bogen.
Die Menschen sehen einander kaum an; allenfalls wenn diejenigen, die weder lesen noch schlafen, es satt haben, die Werbetexte über den Fenstern zu studieren. Ihre Blicke begegnen sich flüchtig, verändern ihren Ausdruck und schweifen weiter. Genau wie sein eigener Blick, nachdem er ein Gesicht eine Weile betrachtet hatte.
Der Zug rast von Station zu Station. Zwischenzeitlich füllt er sich wieder, bevor auf einen Schlag viele Leute aussteigen. Er steht auf und folgt ihnen, während er sich fragt, ob Winnetou womöglich verschlafen und seinen Zielort verpasst hat. Er geht verschiedene Gänge entlang. Dies musste eine Station sein, an der sich mindestens zwei Linien kreuzten. Er nimmt eine Rolltreppe nach oben, bevor er mit einer anderen wieder nach unten fährt und einen korpulenten Farbigen erblickt, der Altsaxophon spielt. Im offenen Instrumentenkoffer schimmern matt ein paar Münzen. Er bleibt einen Augenblick stehen und hört zu. Unglaublich, was der Kerl draufhat. Die Wiedergeburt von Bird. Doch dann fängt er erneut mit derselben Melodie an: Now’s The Time. Man drängt ihn weiter.
»Excuse me, Sir.«
Die Leute in diesem Land sind höflich.
Er findet keinen Ausgang, lässt sich durch das Labyrinth treiben und entscheidet sich schließlich für eine Richtung, die mit Northbound beschildert ist. Ein neuer Zug und neue Menschen. Ein grauer, nur spärlich besetzter Waggon, vielleicht weil es der letzte ist. Er spürt, dass sein Magen knurrt, dass er hungrig wird. Doch er hat keine Angst mehr. Braucht die Dinge einfach auf sich zukommen lassen. Vorläufig war er ein sorgloser Reisender.
Bei einer Station namens Hampstead steigt er aus, vermutlich weil ihm der Name bekannt vorkommt. Er schien mit einem Schriftsteller in Verbindung zu stehen. Schriftsteller. Das hörte sich vertraut an. Sprache, natürlich. Worte. Das Werkzeug eines Schriftstellers. War er selbst einer? Er glaubt es nicht, weil ihm dann sicher einige seiner Titel einfallen würden. Zum ersten Mal seit längerer Zeit spürt er wieder das leichte Zittern seines Körpers, die eigenartige Hilflosigkeit, die ihm verrät, dass er nicht die volle Kontrolle besitzt, dass ihm irgendetwas abhanden gekommen ist, ein Draht, so hauchdünn wie eine Glasfaser.
Vor einem Pub, glaubt er.
Ein Lift bringt die Reisenden an die Oberfläche. Als er auf die Straße tritt – nachdem er eine weitere Schleuse passiert und sein Ticket zurückerhalten hat –, ist der Himmel schwefelfarben. Der Ausgang befindet sich in einer Straßenkurve, und er entscheidet sich für die Richtung, die heller erleuchtet ist. Die Zeiger seiner Armbanduhr stehen auf 6.23.
P.m.
Now’s The Time.
Er sucht Zuflucht im erstbesten Lokal und hat es ganz und gar nicht schlecht getroffen. Die Gerichte stehen in roter Kreide auf einer schwarzen Tafel. Er bestellt Lammkoteletts mit Gemüse sowie einen Pint helles Bier. Die rothaarige Bedienung erinnert ihn an eine Frau, deren Name ihm entfallen ist.
Er lässt es sich schmecken. Das Bier ist kühl und erfrischend. Er trocknet sich den Mund und hat für einen Augenblick die Assoziation, die Leere in ihm sei ein verlassenes Zimmer ohne Gardinen. Die wenigen Möbel sind mit weißen Schonbezügen abgedeckt. Der Raum kommt ihm bekannt vor, obwohl er ihn noch nie gesehen hat. Als die Bedienung vorbeigeht, zeigt er auf sein Glas. Es dauert nicht lange, bevor ein frisches Bier mit Schaumkrone vor ihm steht. Als er die Hand in die Jackentasche steckt, sagt sie lächelnd, er könne an der Theke bezahlen, wenn er gehe. Typisch England, denkt er. Hier gab es keine allgemein gültigen Regeln, was die Zahlweise anging; alles war dem Zufall und dem Willen des jeweiligen Inhabers überlassen. Er blättert ein wenig im Guardian und schließt dann seine Augen. Wenn er sie wieder öffnete, würde er vielleicht zu sich kommen, vernünftig nachdenken und dorthin zurückkehren können, wo er hingehörte. Aber das Bedürfnis ist schwächer als zuvor. Inzwischen scheint es sich fast um ein Spiel, ein stets wiederkehrendes Ritual zu handeln.
Einst ging ich über See und Land, da traf ich einen alten Mann; er sagte so, er fragte so, wo bist du denn zu Hause? Ich bin zu Haus im Wörterland, im Wörterland, im Wörterland, und jeder Mensch, der schreiben kann, der ist zu Haus im Wörterland.
Langsam lässt er das Licht durch seine zusammengekniffenen Augen sickern, ist aber weiterhin nicht in der Lage, vernünftig und zusammenhängend nachzudenken. Doch er hat das Gefühl, der Sache näher zu kommen. Er trinkt einen Schluck, erinnert sich an die Zigaretten in seiner Jackentasche und zündet sich eine an.
»Hast du auch ’ne Kippe für mich, Süßer?«
Er fährt zusammen, schüttelt den Kopf, bietet ihr aber trotzdem eine an. Die Frau, die neben ihm Platz genommen hat, muss mindestens sechzig sein. Er findet sie ziemlich abstoßend: ihr Gesicht ist bleich, im Oberkiefer fehlen ein paar Zähne und mit ihren eingefallenen Wangen macht sie einen ausgehungerten Eindruck. Sie riecht nach Schimmel. Die Zigarette lässt sie rasch in ihrer Manteltasche verschwinden.
»Die ist für später.«
Er nickt bloß, mehr überrascht als verärgert. Die burgunderfarbene Bluse, die sie unter dem fleckigen Mantel trägt, erinnert ihn an geronnenes Blut. Doch ihr Blick lässt ihn nicht los. Die Augen sind anklagend, gierig und flehentlich zugleich, als sei er ihr letzter Ausweg. Er weiß, dass es im Gegensatz zu dem Land, aus dem er kommt, hier nichts Ungewöhnliches ist, wenn sich ein Fremder mit an den Tisch setzt, vorausgesetzt, es gibt noch einen freien Stuhl. Mitunter führte das zu interessanten Gesprächen, meist zu belanglosem Smalltalk.
Nichtsdestotrotz empfindet er das Auftreten der Frau als Zumutung. Vermutlich wollte sie mehr als eine Zigarette. Ein unverfrorenes Weib auf Kontaktsuche. Oder eine gewöhnliche Bettlerin, die ihre Tricks anwandte, um ihn auszunehmen. Ihre nächste Handlung verunsichert ihn, denn unvermittelt greift sie nach seinem Glas, nimmt einen langen Schluck und grinst vergnügt. Er weiß nicht recht, wie er sich verhalten soll, hört, dass um ihn herum getuschelt wird, während ein halbwüchsiger Junge zu kichern anfängt. Da eilt die Bedienung herbei, packt die Frau hart am Oberarm und zieht sie vom Stuhl.
»Verzieh dich, Suzy!«
Worauf Suzy faucht, sich losreißt und dem Ausgang entgegenwankt.
»Tut