Menschen, die Geschichte schrieben. Christine Strobl
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Die Folgen hat Ernst Walter Zeeden, der bahnbrechende Historiker der Konfessionsbildung, 1950/52 wie folgt benannt: „Noch stärker als im frühen war im späten 16. Jahrhundert das Lutherschrifttum von Legenden durchsetzt; es brachte Anekdoten, Geschichten und Wundererzählungen. Sie füllten und belebten die streng dogmatisch-eschatologische Konzeption, die man sich von der Reformation und dem Reformator gebildet hatte“8. In den Lutherpredigten des Cyriacus Spangenberg Cithara Lutheri, Mühlhausen 1570/71, finden sich die bei Mathesius noch nicht vorhandenen Epitheta: „Apostel, Evangelist, Paulus, Martyrer“. Georg Groccer deutete 1586 den Engel der Geheimen Offenbarung des Johannes (Apk. 14) auf Luther und sprach nun von ihm erstmals als einem Apostel, so dass bald auch die von katholischer Seite gerne aufgegriffene Kennzeichnung eines 5. Evangelisten in der Lehrpraxis Wirklichkeit wurde. Der Beweis seines göttlichen Ursprungs sollte schließlich sogar aus der Heiligen Schrift geführt werden, eben mit der weiter ausgebauten apokalyptischen Deutung vom Ende und der Erfüllung der Tage, worin sich der geschichtstheologisch gespannte Bogen zum System schloss.
Dies bedeutete nach Zeeden, „daß man Luther gar nicht beurteilte, sondern ihn (und das hieß vor allem seine Lehre) an einen Ort entrückte, wo man ihn gar nicht mehr kritisiert, sondern nur noch anbetet: ins Heiligtum und ins Geheimnis Gottes. Man war so weit gegangen, daß man nicht mehr aus derselben Quelle schöpfte wie der Reformator, sondern das Quellwasser nur durch seine Vermittlung empfing; ja daß man sogar alles verschmähte, was zuvor nicht durch seine Hände gelaufen war“.9 Dies erweisen alle um 1600 öffentlich monumentierten Schriftbelege, wenn sie stets in Lutherzitate eingebaut erscheinen, also von ihm nochmals legitimiert waren. Wir werden noch entsprechende Bekenntnisbilder dazu benennen. Das Konkordienbuch von 1580 vollendete diese Entwicklung: „Hier wie in dem herangezogenen Lutherschrifttum machte sich dasselbe Phänomen der Erhebung Luthers zum Kirchenvater bemerkbar. Seine Autorität wuchs ins Unantastbare. Das war der Beginn der Kanonisierung.“10 Mir hat vor knapp vierzig Jahren ein damals jüngerer Erlanger Exeget gesagt, er habe diese Konkordienformel als gültiges Corpus doctrinae, das heißt die dogmatische Autoritätsschrift beschwören müssen, um den Lehrstuhl in Besitz nehmen zu dürfen. Im reformierten Heidelberg wird das, wie wir zur Zeit am heftig diskutierten Fall des Exegeten Klaus Berger erleben, offenbar jahrzehntweise unterschiedlich gehandhabt.
DAS KATHOLISCHE LUTHERBILD DES 16./17. JAHRHUNDERTS IM GEGENSATZ ZUR KANONISIERTEN VITA
Wenn wir nun dagegen das katholische Lutherbild jener Zeit stellen, von dem wir bislang nur nebenbei einige Hinweise erwähnt haben, dann werden uns die Imaginationen der sogenannten Lutherlegende in ihrer literarischen Struktur noch deutlicher, denn sie ist ohne die verunglimpfenden Unterstellungen der Gegengeschichten nicht denkbar. Ich spreche bewusst nicht von Legenden im Plural oder im umgangssprachlichen Verständnis von unwahren Geschichten, sondern von der literarischen Gattung Legende, die „Heiligenvita“ meint. Mathesius hatte, wie wir gesehen haben, nicht ohne Grund in Kenntnis der Schriften des Cochläus den fortlaufenden, chronikalisch belegbaren Beweis, wie er selbst sagt, führen wollen, dass Leben und Werk des wahren Gottesmannes übereinstimmen, weil die Gegenseite in ihrer Ketzerpolemik eine in sich schlüssig erscheinende Dämonologie verbreitet hatte. „Apologia und Schutzrede“ nennt Mathesius daher seine Predigten.
Nun muss man allerdings für die generelle Beurteilung dieser wechselseitigen narrativen Auslassungen den Zeitgeist oder allgemeinen Umgangston jener Epoche in Mitteleuropa in Rechnung stellen. Beim sogenannten Grobianismus übertrafen sich gerade die intellektuell herausragenden Exponenten der streitenden Religionsparteien in besonderem Maße, allen voran Luther und Cochläus. Denn dies betraf, und das scheint mir wichtig, nicht allein den Gegensatz von Reformatoren versus Papstkirche, sondern seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts auch zunehmend die Kontroversen der Reformatoren untereinander. Alles, was sich Papsttreue und Lutheranhänger gegenseitig an den Kopf warfen, enthielt zugleich auch das reiche Motivreservoir an Verdächtigungen, Unterstellungen und entehrenden persönlichen Verunglimpfungen der Augustana-Unterzeichner gegen alle anderen und umgekehrt. Vom philologischen Standpunkt aus, also gattungsgeschichtlich gesprochen, gibt es da keinerlei Unterschiede.
In der Germanistik hat sich, unabhängig von der Reformationsgeschichte, seit mindestens vier Jahrzehnten die analytische Beschreibung des auch im Mittelalter nachweisbaren Genres „Antilegende“ durchgesetzt. Die Begriffsbezeichnung ist treffend, weil ihr strukturelles Bausystem exakt der Konstruktion von Heiligenviten folgt. Die volkskundliche Terminologie „Tendenzsage“ trifft nur die einzelnen Motive, und die Historiker-Benotung zu Kulturkampfzeiten mit Bezeichnungen wie „katholische Greuelmär“ benennt lediglich moralische Abscheu, analog zu Luthers eigener Einschätzung der spätmittelalterlichen Heiligenlegende als „Lügende“. Jedoch spätestens seit dem „linguistic turn“ in den Kultur- und Sozialwissenschaften ist die in der Bibelexegese schon seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts geläufige Methode der Formengeschichte auch auf die Historiographie anwendbar. Mithin: Unter „Lutherlegende“ verstehen wir die chronologisch berichtende Lebensgeschichte des Reformators anhand von erzähltechnisch wirkungsvoll eingebauten Memorabilien, d. h. denkwürdigen Ereignissen oder exemplarischen Historien. Solche anschaulichen Verlebendigungen werden in der heutigen Fernsehdramaturgie Actions genannt.
Danach begleiten das Leben eines heiligen Helden und die Ausbreitung seiner Lehre oder seines Vorbildwirkens Bestätigungsund Bekehrungswunder. Er hält Verfolgungen aus und entgeht mancherlei Nachstellungen und Anschlägen. In der vollständigen „Heiligenvita“ Luthers, die bis ins 18. Jahrhundert weiter ausgeschmückt und auf Flugblättern in Comicweise szenisch aneinandergereiht wurde, lauten die typischen Bauelemente und inhaltlichen Versatzstücke: Vorgeburtliche Zeichen oder Prophezeihungen (bei Luther das angebliche Hus-Dictum), auffallendes Betragen eines Wunderkindes (der Kurrende singende Luther), signifikantes Bekehrungserlebnis (die Sage vom Blitzschlag und dem Tod des Freundes), die Offenbarungstat des bewusst die Reformation inaugurierenden Thesenanschlags (als himmlischem Wendepunkt der Weltgeschichte), heldenhafter Kampf mit den Mächten der Finsternis (Bannbulle und Reichsacht), Bewahrung vor dem Giftbecher (in Worms oder wie bei St. Johannes oder St. Benedikt), Schutz vor Gefangenschaft (Wartburg, Coburg) mit dortigen Anfechtungen des Teufels (Tintenfassanekdoten), schließlich beispielhaftes Alltagsleben (Wittenberger Familienidylle), Kirchenorganisation ohne Amt aus bloßer Autorität von Gott (nach Mathesius Beruf aus Berufung), Tröster der Kranken und Freunde (Gebet für Melanchthon und Mykonius). Luther hilft bei Feuer und Regen und erweist sich durch Vorhersagen und wirksame Verfluchungen böswilliger Orte als gottgesandt. Als Endpunkt steht dann sein seliges Sterben entgegen dem Faktum des unerwartet plötzlichen Todes auf einer Reise in Eisleben. Daher brachte Luthers Lebensende reichlich polemische wie apologetische Literatur hervor.
Die Antilegende fand im plötzlichen Tod ihr eigentliches Ziel: die Bestätigung der Höllenfahrt nach einem unheiligen Leben. Zum Genre der Antilegende zählen daher das Ende des Simon Magus aus der Apostelgeschichte, eines orientalischen