materielle Vergleiche erklären. Das Vergnügen, allein und von einer sanften Brise umschmeichelt in einem klaren See inmitten von Felsen, Wäldern und Blumen zu schwimmen, würde den Unwissenden nur ein schwaches Bild des Glücks geben, das ich empfand, wenn sich meine Seele gleichsam in einem überirdischen Lichte badete, wenn ich den schrecklichen und verworrenen Stimmen der Inspiration lauschte, wenn Bilder aus einer unbekannten Quelle in mein zuckendes Hirn sprangen. Zu beobachten, wie auf dem Feld der Abstraktionen eine Idee sprießt, gleich der Morgensonne emporsteigt, oder besser, die heranwächst wie ein Kind, das langsam zur Reife gelangt und zum Mann wird, ist eine Freude, die alle irdischen Freuden übersteigt, oder vielmehr, ist göttliche Lust. Das Studium verleiht allem, was uns umgibt, einen magischen Schein. Der wackelige Tisch, auf dem ich schrieb, das braune Schafleder, mit dem er bedeckt war, mein Klavier, mein Bett, mein Lehnstuhl, die Schnörkeleien auf meiner Tapete, meine Gerätschaften, all diese Dinge gewannen ein eigenes Leben und wurden meine ergebenen Freunde, die verschwiegenen Gefährten meiner Zukunft. Wie oft habe ich ihnen nicht, wenn ich sie ansah, meine Seele enthüllt! Wie oft, wenn ich meine Augen über ein windschiefes Gesims gleiten ließ, sind mir neue Gedankenfolgen gekommen, ein schlagender Beweis meines Systems oder Worte, die mir treffend schienen, kaum auszudrückende Gedanken wiederzugeben. Wie ich die Dinge, die mich umgaben, betrachtete, entdeckte ich, daß jedes eine Physiologie, einen besonderen Charakter hatte. Oft sprachen sie zu mir; wenn die untergehende Sonne über die Dächer hinweg einen flüchtigen Schein in mein schmales Fenster warf, färbten sie sich, verblaßten, leuchteten auf, wurden bald düster, bald heiter und überraschten mich stets durch neue Wandlungen. Diese winzigen Ereignisse eines einsamen Lebens, die der rastlos geschäftigen Welt entgehen, sind der Trost der Gefangenen. War ich denn nicht gefangen von der Idee, in ein System gesperrt, obgleich die Aussicht auf eine glorreiche Zukunft mich aufrechterhielt? Bei jeder überwundenen Schwierigkeit küßte ich die weichen Hände der reichen, eleganten Frau mit den schönen Augen, die mir eines Tages die Haare streicheln und gerührt zu mir sagen würde: ›Du hast viel gelitten, mein armer Engel!‹ Ich hatte zwei große Werke in Angriff genommen. Eine Komödie sollte mir in wenigen Tagen einen Namen, ein Vermögen und den Eintritt in jene Welt verschaffen, wo ich die Hoheitsrechte des Genies auszuüben gedachte. Ihr alle habt in diesem Meisterwerk den ersten Fehlgriff eines jungen Mannes, der gerade aus dem Collège kommt, gesehen, nichts als eine Kinderei. Eure Spötteleien haben hochfliegenden Illusionen die Flügel gestutzt, und seither ruhen sie. Du, lieber Émile, warst der einzige, der Linderung in die tiefe Wunde träufelte, die die anderen in mein Herz schlugen. Du allein hast meine ›Theorie des Willens‹ bewundert, jene langwährende Arbeit, um derentwillen ich die orientalischen Sprachen, die Anatomie, die Physiologie studiert und der ich den größten Teil meiner Zeit geopfert habe. Dieses Werk wird, wenn ich mich nicht täusche, die Arbeiten von Mesmer, Lavater, Gall und Bichat ergänzen und der Wissenschaft einen neuen Weg weisen. Hier endet mein schönes Leben, dieses mit jedem Tag erneuerte Opfer, diese der Welt unbekannte Seidenwurmarbeit, deren einziger Lohn vielleicht in der Arbeit selbst liegt. Vom Alter der Vernunft an bis zu dem Tag, da ich meine Theorie beendete, habe ich unablässig beobachtet, gelernt, geschrieben, gelesen; mein Leben war wie ein langes Strafpensum. Obwohl ich verweichlicht war und zu orientalischer Faulheit neigte, obwohl ich in meine Träume verliebt und sinnlicher Natur war, habe ich doch immer gearbeitet und mir die Freuden des Pariser Lebens versagt. Ich schätzte Tafelgenüsse und lebte aufs kärglichste; ich liebte das Wandern und das Reisen zur See, sehnte mich, fremde Länder kennenzulernen, ja, ich hätte noch Vergnügen daran gefunden, gleich einem Kinde, Kieselsteine auf dem Wasser hüpfen zu lassen, und bin doch beständig mit der Feder in der Hand auf einem Fleck sitzengeblieben. Trotz meiner Redseligkeit lauschte ich stillschweigend den Vorlesungen der Professoren in der Bibliothek und im Museum; ich schlief auf meinem einsamen Lager wie ein Benediktinermönch, und doch war eine Frau mein einziger Wunsch, ein ständig gehegtes und nie erfülltes Verlangen. Kurz, mein Leben war ein grausamer Widerspruch, eine fortwährende Lüge. Aber so ist der Mensch! Manchmal brachen meine natürlichen Triebe hervor wie eine Feuersbrunst, die lange im verborgenen geschwelt hat. Wie in hitzigen Fieberträumen sah ich mich, der ich doch all die glühend ersehnten Frauen entbehrte und in äußerster Armut in einer elenden Künstlermansarde hauste, von hinreißenden Frauen umgeben. Ich lehnte in den weichen Polstern einer glänzenden Equipage und fuhr durch die Straßen von Paris. Von Lastern ausgehöhlt, stürzte ich mich in Ausschweifungen, wollte alles, besaß alles, war nüchtern trunken wie der heilige Antonius in seiner Versuchung. Glücklicherweise löschte der Schlaf schließlich diese verzehrenden Visionen; am anderen Tag rief mich lächelnd die Wissenschaft wieder und ich war ihr treu. Ich denke mir, daß auch die sogenannten tugendhaften Frauen oft von solchen Stürmen der Raserei, der Begierde und der Leidenschaft heimgesucht werden, die sich gegen unseren Willen in uns erheben. Solche Phantasien sind nicht ohne Reiz; gleichen sie nicht jenen Winterabendplaudereien, wo man von seinem Kaminfeuer aus bis nach China reist? Aber was wird während dieser köstlichen Fahrten, wo der Gedanke alle Hindernisse überspringt, aus der Tugend? Während der zehn ersten Monate meiner Zurückgezogenheit führte ich das dürftige und einsame Leben, das ich dir geschildert habe; am frühen Morgen holte ich, ohne daß jemand mich sah, meine Vorräte für den Tag ein; ich räumte mein Zimmer auf, war Herr und Diener zugleich und spielte den Diogenes mit einem unglaublichen Stolz.
Aber nach dieser Zeit, während der die Wirtin und ihre Tochter meine Gewohnheiten und meine Sitten auskundschafteten, meine Person prüften und mein Elend verstanden, vielleicht weil sie selber sehr unglücklich waren, knüpften sich zwischen ihnen und mir unvermeidliche Beziehungen an. Pauline, das reizende Geschöpf, dessen zarte, kindliche Grazie mich eigentlich erst dorthin geführt hatte, erwies mir verschiedene Dienste, die ich unmöglich abweisen konnte. Alle traurigen Schicksale sind verwandt; sie sprechen dieselbe Sprache und haben die gleiche Großherzigkeit, die Großherzigkeit jener, die, da sie nichts besitzen, freigebig sind mit ihren Gefühlen und ihre Zeit und ihre Person dareinsetzen. Unmerklich nistete Pauline sich bei mir ein, wollte mich bedienen, und ihre Mutter widersetzte sich dem nicht. Ich sah, wie die Mutter selbst meine Wäsche flickte und errötete, als ich sie bei dieser barmherzigen Beschäftigung ertappte. Da ich, ohne es zu wollen, ihr Schützling geworden war, sträubte ich mich gegen ihre Dienste nicht. Um diese eigentümliche Zuneigung zu verstehen, muß man die Leidenschaft der Arbeit kennen, die Tyrannei der Ideen und jenen natürlichen Widerwillen, den ein Mensch, der in einer geistigen Welt lebt, gegen die Kleinigkeiten des materiellen Lebens empfindet. Konnte ich der zarten Aufmerksamkeit widerstehen, mit der Pauline mir mit leisen Schritten meine bescheidene Mahlzeit brachte, wenn sie bemerkte, daß ich seit sieben oder acht Stunden nichts zu mir genommen hatte? Mit weiblicher Anmut und kindlicher Unbefangenheit lächelte sie mir zu und bekundete durch ein Zeichen, daß ich sie nicht beachten solle. Sie war Ariel, der wie eine Sylphe unter mein Dach schlüpfte und für mein leibliches Wohl sorgte. Eines Abends erzählte mir Pauline mit rührender Naivität ihre Geschichte. Ihr Vater war Schwadronschef bei den berittenen Grenadieren der kaiserlichen Garde gewesen. Beim Übergang über die Beresina war er von den Kosaken gefangengenommen worden; später, als Napoleon ihn austauschen wollte, ließen ihn die russischen Behörden vergeblich in Sibirien suchen; nach den Aussagen anderer Gefangener war er entflohen und plante, sich nach Indien durchzuschlagen. Seither hatte meine Wirtin, Madame Gaudin, keinerlei Nachricht von ihrem Manne erlangen können. Die Unglücksjahre von 1814 und 1815 waren hereingebrochen; allein, ohne Hilfe und Hilfsquellen, hatte sie es unternommen, ein Hotel zu unterhalten, um ihre Tochter zu ernähren. Sie hoffte immer noch, ihren Gatten wiederzusehen. Ihr größter Kummer war, daß sie Pauline keine Erziehung angedeihen lassen konnte, ihrer Pauline, dem Patenkind der Fürstin Borghese, das die von ihrer kaiserlichen Beschützerin verheißene glänzende Zukunft nicht Lügen strafen sollte. Als Madame Gaudin mir diesen bitteren Schmerz, der an ihrem Herzen nagte, anvertraute und mit ergreifendem Ton zu mir sagte: ›Gern würde ich den Fetzen Papier, der Gaudin zum Baron des Kaiserreichs macht, und die Ansprüche auf die Schenkung von Wistchnau dafür hingeben, Pauline in Saint-Denis erzogen zu wissen!‹, da erbebte ich plötzlich, und um die Gefälligkeiten, mit denen beide Frauen mich überhäuften, zu vergelten, hatte ich den Einfall, mich zu erbieten, Paulines Erziehung zu vervollständigen. Die beiden Frauen nahmen meinen Vorschlag ebenso treuherzig auf, wie ich ihn gemacht hatte. So kamen denn für mich Stunden der Erholung. Die Kleine hatte die glücklichsten Anlagen; sie lernte so leicht, daß sie mich bald auf dem Klavier übertraf. Sie gewöhnte sich daran, an meiner Seite laut