Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs
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Als wir diese riesige Insel mit ihren schneebedeckten Bergen und Tälern am Horizont auftauchen sehen, verfluchen wir einmal mehr die Leichtfertigkeit, mit der man ganze Landstriche verwüstet und sie für Generationen zu einer nuklearen Wüste verkommen lassen hat, in der es auf Dauer kein Leben geben kann.
In der Karasee wurden in den Siebziger- und Achtzigerjahren zudem ungeheure Mengen an abgebrannten Kernbrennstäben versenkt, die auf Eisbrechern oder Marineschiffen verwendet wurden. Der erste nuklearbetriebene Eisbrecher LENIN hat dort gleich ganze Generationen seiner offenbar störanfälligen Reaktoren versenkt. Wo und in welchem Zustand sich der Atommüll heute befindet, ist ebenfalls ungewiss. Für ein Sanierungsprogramm fehlt offenbar das Geld und wohl auch die Einsicht zur Notwenigkeit. Und überhaupt, wohin mit dem Kram? Mehrere Jahrgänge von ausgedienten U-Booten und Reaktoren aus den zivilen wie militärischen Bereichen warten dort auf ihre Verschrottung. 1991 lagerten an Bord der im Hafen von Murmansk aufgelegten LENIN die Brennstäbe ganzer Reaktorgenerationen, sozusagen als Zwischenlager. Der ausgediente Frachter LEPSE soll angeblich noch heute als schwimmende Atommülldeponie dienen, ebenso wie die WOLODARSKIJ, ein anderer ausgedienter Frachter. Alles in unmittelbarer Nähe von Murmansk. Die Kernkraftwerke dieser Region würden in der westlichen Welt umgehend vom Netz genommen werden müssen, so marode sind sie. Was darüber hinaus noch in den geheimen und als absolutes Sperrgebiet ausgewiesenen Militärbasen wie etwa Seweromorsk lagert, weiß keiner. Darüber kann nur spekuliert werden.
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»Die Stimmung an Bord ist ausgelassen, ›das ist ja alles gar kein Problem‹, lautet die Einschätzung. Eine Bewertung, die wenig später in aller Stille revidiert wird.«
Die ersten Eisschollen, auf die wir treffen, werden mit großem Hallo empfangen. »Endlich Eis«, höre ich Elise jubeln, so als ob es sich um ein Geschenk des Himmels handeln würde. Ich merke, wie sich bei mir die alte Unruhe ausbreitet, die ich immer verspüre, wenn ich ins Eis fahre. Es ist eine Art der inneren Anspannung, wie sie ein Regattasegler vor dem Start empfindet. Die Konzentration wächst und alle Sinne werden geschärft, alles andere tritt in den Hintergrund.
Tatsächlich sieht es großartig aus. In der niedrig stehenden Sonne zeichnet das Licht weiche Pastelltöne, die Ulli umgehend zu den Stiften und Pinseln greifen lässt. Ununterbrochen sitzt er an Deck und bringt die Stimmungen mit einer Intensität und einem Einfühlungsvermögen aufs Papier, dass wir nur staunen können. Seitdem er in Tromsø an Bord gekommen ist, malt Ulli jeden Tag, ganz gleich wie das Wetter ist. Sein Tagebuch, seine unglaubliche Begabung, Eindrücke zu sammeln und sie ins Bild zu setzen, versetzt uns alle immer wieder in Erstaunen. Im Laufe der Reise entsteht auf diese Art und Weise ein einzigartiges Dokument.
Obwohl uns Murmansk die Empfehlung ausgesprochen hat, einen nördlichen Kurs durch die Eisfelder zu nehmen, wählen wir einen südlicheren, da unsere Eiskarten dort günstigere Verhältnisse ausweisen. Irgendwo weiter im Norden soll die SOVIETSKI sojus auf Station liegen, aber mit dem Eisbrecher haben wir ohnehin nichts zu tun. In Murmansk hatte man uns wissen lassen, dass uns jeder Tag, an dem uns ein Eisbrecher helfen würde, 44.0 US $ kosten würde. Wir hatten dankend abgelehnt.
Die Karastraße ist der erste Flaschenhals, den wir passieren müssen. Die starken westlichen Winde der vorangegangenen Tage haben das Eis überwiegend aus der Enge geblasen, aber dahinter wartet es auf uns. Die Stimmung an Bord ist ausgelassen, »das ist ja alles gar kein Problem«, lautet die Einschätzung. Eine Bewertung, die wenig später in aller Stille revidiert wird. Fast glauben wir, die Eisfelder schon passiert zu haben, als es wirklich dicht wird. Das sorgt für Irritation – wieso? Irgendwo muss es doch einen Durchgang geben? – Gewiss, aber wo? Vom Mastkorb aus gesehen erstrecken sich vor uns riesige Eisfelder, die zwar immer wieder Streifen schwarzen Wassers aufweisen, die zugleich aber auch im Irgendwo enden. Das Eis treibt. Fahren wir dort hinein, droht es uns einzuschließen. »Fahre niemals in unübersichtliches Eis«, lautet eine alte Regel der Eismeerfahrer. Abwarten können wir aber auch nicht. Also was tun? Wie weit müssen wir nach Süden ausweichen – und gibt es dort vielleicht nicht auch noch Küsteneis, das uns den Weg versperren wird? Mit einem Mal weicht die ausgelassene Stimmung und Freude über das Eis einer gewissen Ernsthaftigkeit. Ständig steht jemand oben im Krähennest und sucht Schneisen. Vorn am Bug steht eine weitere Person und zeigt mit ausgestrecktem Arm dem Rudergänger die Richtung an, in die er steuern muss. Ich berate mich mit Martin und treffe die Entscheidung, noch weiter nach Süden auszuweichen, da vor uns alles dicht ist. Das alte Spiel hat wieder angefangen.
Die DAGMAR AAEN trifft auf ein Eisfeld.
Ein heftiger Stoß geht durchs ganze Schiff, als der Rudergänger nicht schnell genug die vom Vorschiffmann angewiesene Kursänderung durchführen kann. Mit über 5 Knoten knallt der stahlbewehrte Steven der DAGMAR AAEN gegen eine Eisscholle, die genauso wenig nachgibt wie eine Kaimauer. Ich bin ärgerlich und lasse meinem Unmut freien Lauf. »Völlig unnötig so etwas!«, rufe ich verdrossen, »das ist erst der Anfang und ihr fahrt hier durch das Eis als sei es Styropor!«
Die DAGMAR AAEN kann das zum Glück ab, aber so etwas darf einfach nicht passieren. Ein schwächer gebautes Schiff hätte jetzt ein Loch oder zumindest eine gewaltige Beule. Aber das Erlebnis sorgt dafür, dass dem Eis fortan mit mehr Respekt begegnet wird. Konzentriert wird Ausguck gegangen. Der Rudergänger gerät trotz der kühlen Witterung ins Schwitzen, da er ständig am Kurbeln ist. Im Zickzackkurs geht es weiter. Gegen Mittag macht sich eine leichte Dünung bemerkbar, ein untrügliches Zeichen dafür, dass sich das Eis ausdünnt.
Dafür kommt ein »eisiges« Fax aus Murmansk an Bord geflattert. In einem harschen Ton werden wir aufgefordert, angefügte Erklärung zu unterschreiben und unverzüglich nach Moskau zu faxen – anderenfalls würden wir im nächsten Hafen festgenommen werden. Slava ist empört. »Wir haben alle Papiere, sämtliche Genehmigungen, was soll das nun schon wieder?« Das Papier wäre kurios, wäre es nicht in einem so geharnischten Tonfall verfasst. Der Inhalt lässt sich in einen Satz zusammenfassen: Wir müssen zusichern, dass wir keinerlei militärische Anlagen fotografieren werden – und sie nicht einmal beobachten würden! Militärische Anlagen dürfen in der Regel nirgendwo auf der Welt fotografiert oder gefilmt werden. Aber hinschauen? Wer wollte uns das verwehren oder gar überprüfen? Slava hatte zudem in Murmansk bereits gefragt, ob es Sperrgebiete gibt, denen wir nicht zu nahe kommen dürften. Mit dem Hinweis, dass man uns diese Gebiete nicht nennen könne, weil wir dann ja um ein militärisches Geheimnis wüssten, hatte man uns diese Information verweigert. Mit einer Ausnahme – Nowaja Zemlja! Aber wie sollen wir wissen, wo wir hinschauen dürfen und wo nicht, wenn uns Gebiete der militärischen Anlagen nicht bekannt sind? Es gibt keine Angaben von Sicherheitszonen oder Sperrgebieten – es ist kurios. Wenn es nach den Behörden ginge, müssten wir mit geschlossenen Augen durch die Passage segeln. Aber was soll’s. Wir sind hier, und Moskau ist weit weg. Brav unterschreibe ich alle Papiere und faxe sie nach Moskau. So einfach ist das. Es lebe der Formalismus.
Das Wetter bleibt schlecht. Wir haben Gegenwind und dampfen gegenan. Je weiter wir uns dem Mündungsgebiet von Ob und Jenissei nähern, desto häufiger treffen wir auf Baumstämme. Die teilweise riesigen Stämme stammen von den Holzeinschlaggebieten im Inneren Sibiriens. Bisweilen treffen wir auf ganze Felder von Baumstämmen, von denen einige senkrecht treiben und daher schwer auszumachen sind. Ansonsten bleibt das Meer leer. Keine Schiffe weit und breit. Was