Die Umrundung des Nordpols. Arved Fuchs
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Darüber hinaus – und das ist vielleicht das Wichtigste – muss man trotz aller technischen Möglichkeiten seine Erfahrung und seinen Verstand gebrauchen. Die Auflösung der Eiskarten gibt keine Detailinformation preis. Man muss sie zu interpretieren wissen und die aktuelle Wetterlage mit in die Überlegung einbeziehen, bevor man sich ins Eis begibt.
Eisfahrten erscheinen mir immer wie ein Schachspiel. Indem man die Eisfelder erreicht, eröffnet man das Spiel. Das Eis macht den nächsten Zug. Mal verhalten, mal gutmütig, dann wieder aggressiv und unerwartet. Man ist ständig in der Defensive und rechnet immer mit dem Schlimmsten. Sollte man zumindest. »Ice is nice« heißt es so schön und ich kann dem nur zustimmen. Aber Eis ist auch tückisch und bedrohlich und verfügt über ein unglaubliches Zerstörungspotenzial. Dabei wirkt es immer harmlos und versucht einen in die Falle zu führen.
»So schlimm ist das doch alles gar nicht«, ist eine verhängnisvolle Geisteshaltung, weil sie einen leichtfertig und nachlässig werden lässt. Und dann schlägt das Eis plötzlich zu! Ich merke das besonders gut bei den Crewmitgliedern an Bord, die noch nie im Eis waren. Ulli, der die Expedition als Maler begleitet, kann es gar nicht abwarten, die ersten Eisfelder zu sehen. Dicht und gewaltig sollen sie sein, je dramatischer desto besser. Markus denkt ähnlich. Kaum kann er es abwarten, bis die ersten Eisfelder auftauchen. Die anderen sind je nach der Intensität ihrer Eiserfahrung verhaltener. Elise, die zwar genügend Eis gesehen hat und auch die eingefrorene DAGMAR AAEN kennt, hat die Bedrohlichkeit von Eispressungen noch nicht miterlebt. Achim, Katja und Torsten, die an der Ostküste Grönlands an Bord waren, sind da schon zurückhaltender, und Slava, Henryk, Brigitte und ich freuen uns über jeden Tag, an dem wir noch kein Eis vorfinden. Wir haben die umfangreichste Eiserfahrung. Ich bemerke auch, dass mein vorsichtiges Taktieren bei einigen auf Unverständnis stößt. »Wir sind doch hierher gesegelt, um ins Eis zu fahren«, bekomme ich zu hören.
»Wir sind nicht hier, um ins Eis zu fahren, sondern um durch die Nordostpassage zu segeln. Das ist ein Unterschied. Dabei müssen wir zwangsläufig durchs Eis hindurch. Aber suchen tue ich es ganz sicher nicht.«
»Falsch«, sage ich, »wir sind nicht hier, um ins Eis zu fahren, sondern um durch die Nordostpassage zu segeln. Das ist ein Unterschied. Dabei müssen wir zwangsläufig durchs Eis hindurch. Aber suchen tue ich es ganz sicher nicht.« Zumindest nicht auf dieser Expedition. Die Zielsetzung ist eine andere.
Die Eisverhältnisse in der Nordostpassage ändern sich von Jahr zu Jahr. Es gibt gute Jahre und es gibt schlechte. Das Problem beseht darin, rechtzeitig zu erkennen, in welche Richtung das Pendel ausschlägt. Da man eine Expedition von langer Hand planen muss, gibt es zu diesem frühen Zeitpunkt keinerlei Hinweise, wie sich die Eislage entwickeln wird. Man muss das Risiko auf sich nehmen, dass man ein ungünstiges Jahr erwischt. Die Wahrscheinlichkeit, dass man ein schlechtes Jahr erwischt, ist größer als die, an ein gutes Jahr zu geraten. Wie sich die aktuelle Eislage in einem Sommer entwickeln wird, lässt sich oftmals erst wenige Wochen vorher beurteilen. Die Möglichkeit, auf ein gutes Jahr zu warten um dann erst loszufahren, besteht also nicht. Daran hat sich seit den Zeiten von Eduard Dallmann oder Fridtjof Nansen nichts geändert. Allerdings gibt es in diesem Sommer Hinweise dafür, dass das Frühjahr im Norden Norwegens und auch in den angrenzenden russischen Gebieten ungewöhnlich warm und milde war. Das lässt zumindest hoffen. Vergleiche mit den Vorjahren zeigen uns, dass die Eisfelder weiter im Osten in dem Maße abnehmen, wie es in einem durchschnittlichen Jahr zu erwarten wäre. Ein durchschnittliches Jahr gibt uns zumindest eine faire Chance.
Seit wir Murmansk verlassen haben, sind uns mit Ausnahme einiger russischer Trawler keine Schiffe begegnet. Wir sind allein auf weiter Flur. Ich hatte bei unseren täglichen Besuchen bei der Murmansk Shipping Company versucht herauszufinden, warum die Eisbrecherflotte untätig im Hafen liegt. Warum gibt es kein Frachtaufkommen innerhalb der Passage? Neben dem Eisbrecher YAMAL, der seine alljährliche Nordpol-Kreuzfahrt unternimmt, sind offenbar nur zwei weitere Eisbrecher im Einsatz: die TAYMYR, die wir noch in Murmansk in der Werft gesehen haben, sowie die SOVIETSKI sojus, einer der großen 75.000 PS starken Atomeisbrecher. Letzterer sollte im Bereich der Karastraße liegen und dort Schiff, die zum Jenissei oder Ob wollen, durchs Eis geleiten. Einen Konvoi, der die gesamte Passage befährt, gibt es dieses Jahr nicht – wie auch schon in den vorangegangenen Jahren. Nach dem Grund befragt, ernten wir nur ein Schulterzucken – no comment!
So sieht Rainer Ullrich die Annäherung an die Karastraße bei stürmischen Wetter. Losgelöst vom Schiff, kann ein Maler eine beliebige Position einnehmen.
Das stürmische Wetter hält an, Murmansk gibt sogar eine Sturmwarnung aus. Um nicht bei Sturm und Seegang in die Eisfelder der Karastraße einzufahren, entschließe ich mich, in Lee der Kolgujev-Insel beizudrehen und auf eine Wetterbesserung zu warten. Einmal in den Eisfeldern drin, hat der Seegang keine Auswirkungen mehr, da das Eis die See glättet. Die Schwierigkeit besteht darin, erst einmal weit genug ins Eis zu gelangen, bis sich die See beruhigt hat. Davor geht es nämlich zu wie auf einem Verschiebebahnhof. Eisschollen werden von der Dünung hin- und hergeworfen, prallen aufeinander und ändern unberechenbar ihre Richtung. Bei einem Seegang von drei bis vier Metern spielen sich dabei spektakuläre Szenen ab. Wehe dem Schiff, das von einer surfenden Eisscholle gerammt wird! Wenn ich es vermeiden kann, warte ich ab und fahre bei günstigeren Verhältnissen ins Eis, so wie jetzt.
Wir setzen Trysegel und Sturmfock und liegen bei. Sofort liegt das Schiff verhältnismäßig ruhig, wir gehen unter Deck und genießen die Ruhe. Als am nächsten Tag der Wind nachlässt, setzen wir wieder volle Segel und nehmen Kurs auf die Karastraße.
Das Wissen um die Wetterentwicklung ist für die Durchfahrung der Nordostpassage äußerst wichtig, weil das Eis mit dem Wind driftet. Verfügt man also über eine verlässliche Prognose über die Wetterentwicklung der nächsten Tage, ist die Entscheidung darüber leichter, ob man ins Eis hineinfährt oder besser nicht. Ablandiger Wind treibt das Eis von der Küste fort und lässt dadurch eine eisfreie Rinne entstehen, auflandiger Wind schiebt das Eis und gegebenenfalls das Schiff auf die Küste – mit einem möglicherweise katastrophalen Ausgang. Der tägliche Wetterbericht des Deutschen Seewetterdienstes war für uns deshalb von größter Bedeutung. Sozusagen als Gegenleistung haben wir uns dazu verpflichtet, als Wetterbeobachtungsschiff zu agieren. Unter Martins Obhut wurden bis zu sechsmal täglich genaue Wetterbeobachtungen nach einer Vorgabe des DWD durchgeführt und anschließend über Inmarsat nach Hamburg durchgegeben. Die Daten fließen in einen Rechner ein und speisen die Wettermodelle mit entsprechenden Angaben. Da nahezu alle russischen Wetterstationen ihren Dienst eingestellt haben, fehlen von dort oben Messdaten, die wir jetzt liefern können. In komprimierter Form senden wir die Wetterdaten täglich auch noch nach Moskau in das Büro von Arthur Chilingarov, wie ich ihm das bei meinem Besuch in Moskau versprochen hatte. Auf einem relativ kleinen Schiff wie der DAGMAR AAEN nehmen die Messungen von Luft- und Wassertemperatur sowie Windrichtung und -geschwindigkeit, Taupunkt und Wolkenformationen, das Codieren und anschließende Versenden der Daten ziemlich viel Zeit in Anspruch. Zwischen dreißig und vierzig Minuten dauert der Vorgang. Trotzdem wird es durchgezogen.
Am 1. August erreichen wir die Karastraße. Es herrscht rund um die Uhr Tageslicht, daher spielt es keine Rolle, dass wir uns dem Eis während der Nachtstunden nähern. Zu beiden Seiten taucht in der Ferne Land auf, im Norden zeigen sich die Umrisse von Nowaja Zemlja. Es ist strengstens verboten, sich der Insel zu nähern geschweige denn sie zu betreten. Es ist ganz sicher auch nicht ratsam,