Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
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Besinnungslos lag Christabel in Christophs Armen und der Baron und die Baronin von Rippgen standen und wussten unbedingt nicht mehr als unsere Leser, was sie aus der Geschichte machen sollten. »Die einen waren so dumm wie die anderen«, sagte nachher Pechle; »aber ich« – – – Er hat den Satz nie zu Ende geführt, wenn er später selber die Geschichte erzählte. –
Das zweiundzwanzigste Kapitel.
Das war eine bange Nacht, welche Christabel in Zuckungen, Miss Virginy am Bette der Herrin, die Baronin Lucie schlaflos im Bette, der Baron auf einem Stuhle vor der Kammertür der Damen verwimmerten, und welche Christoph Pechle auch im Bette und, nach einigem staunenden, verwirrten Hin- und Herwenden des Tages und des Abends im Sinn – im tiefen, ungemein gesunden Schlafe, aber einsam auf dem weiten, öden Tanzsaal des Wirtshauses zum Lamm in Hohenstaufen verbrachte.
Wohin der englische Kapitän, Sir Hugh Sliddery, entschwunden war, bleibt ein ungelöstes Rätsel. Er hatte den Hohenstaufenschen Jüngling, der sein Gepäck vom Ochsen und aus der Dorfgasse in das Lamm geschafft hatte, noch einmal aufgegriffen, mit ihm eine kurze, atemlose, von einigen Griffen in den Geldbeutel begleitete Unterhaltung gehabt und war verschwunden.
Er war verschwunden, und der nächste Morgen fand keine weitere Spur mehr von ihm in Hohenstaufen, als den zerschlagenen Regenschirm britischen Fabrikates, der später unter den Corporibus delicti auf dem Gerichtstische zu Göppingen keine geringe Rolle spielte, auf diesem Gerichtstische, auf welchen Pechle die entbrannte Menge so unbeschreiblich richtig, sachgemäß und seelenkundig hingewiesen hatte. Der Schirm war vorhanden; aber der Besitzer fehlte, und er fehlte dem Oberamtsrichter zu Göppingen nicht mehr, als wir ihn in dieser drangvollen Nacht im Lamm zu Hohenstaufen vermissen; nachdem wir seine Abwesenheit zu Protokoll genommen haben, bekümmern wir uns, wenigstens fürs erste, nicht mehr um ihn.
Es war eine bange, eine drangvolle Nacht! Die großen Kaiser und Kaiserinnen von dem Berggipfel über dem kleinen Dorfe mochten dann und wann ähnliche durchgemacht haben, aber schlimmere gewiss nicht. Konradin hatte sicherlich in der Nacht vor seiner Hinrichtung besser geschlafen, als der Baron Ferdinand von Rippgen auf seinem Stuhle. Die Baronin zu allen übrigen Seelen- und Körperqualen von fieberndster Neugier in Hinsicht auf den Kapitän Sir Hugh geplagt, wälzte sich, wenn sie nicht aufrecht auf ihrem Bette saß, auf demselben; und Virginy – o reden wir nicht von der Unglücklichen! Reden wir lieber von Miss Christabel.
Miss Christabel Eddish wand sich ebenfalls auf ihrem Lager, wie es schien, in vollständiger Bewusstlosigkeit, allein das schien in der Tat nur so. Zwischen ihren »Spasmen« überlegte sie, dachte sie, schloss und – beschloss sie; und wenn sie dabei unwillkürlich stöhnte, und die Freundin von der gegenüberliegenden Wand: »Mein armes Herz?!« fragend, teilnehmend herübermurmelte, so antwortete sie durchaus unverständlich, und gab noch viel weniger eine genügende Aufklärung über die »sonderbare Szene von vorhin«. Die britische Jungfrau hatte die unter Umständen höchst beneidenswerte Gabe, jemanden während fünf Minuten unentwegt anstarren zu können; aber in dieser Nacht starrte die deutsche Freifrau oft noch viel länger und unentwegter auf die Freundin, und schüttelte jedes Mal nachher das Haupt. Dies war die Nacht, in welcher Lucie zuerst anfing, ihr »süßes Leben« nicht mehr zu begreifen; und für das, was unter Damen aus solchem Nichtmehrbegreifen allgemach hervorsprosst, wächst, sich entfaltet, in Samen schießt und auswuchert, finden wir augenblicklich noch nicht Wort, Bild und Gleichnis, und haben uns mit der nüchternen Tatsache zu begnügen, dass es – im Busen quoll.
Es war nicht nur eine bange, sondern es war auch eine lange Nacht, trotzdem dass sich die Morgenröte schier unmittelbar an die letzten rosigen Farbentöne des Sonnenuntergangs anschloss. Der Baron auf seinem Stuhle spürte dieses durch alle Glieder. Eine widerstandsfähigere Natur als die seine würde gewiss all diesen geistigen und körperlichen Aufregungen, Anstrengungen und Qualen erlegen sein; er erhielt sich in seiner Weichheit und erlebte den nächsten Morgen, der aber seltsamerweise auch dann nicht ausgeblieben sein würde, wenn er, Ferdinand von Rippgen, nicht mehr imstande gewesen wäre, bei seinem Erscheinen »Gottlob!« zu sagen.
Über die Berge legte sich das Licht – blendend erfüllte es die Welt, und herrlicher, anlockender, lieblicher und schmeichelnder hatte die Umgegend des alten ruhmstrahlenden Hohenstaufenkegels noch nimmer zum Verweilen eingeladen. Wer sich jedoch nicht verlocken ließ, das war die Touristengesellschaft im Wirtshaus zum Lamm in dem Dorfe Hohenstaufen.
Nimmer hatte eine Reisegesellschaft so sehr genug von einer schönen Gegend gehabt! Nimmer waren zween edlen Frauenseelen sämtliche historische Erinnerungen und Genüsse einer Landschaft so vollständig verleidet worden, wie diesmal und wie hier! Nimmer hatte sich ein königlich sächsischer Assessor außer Dienst und Ehemann in Diensten so vollgesogen an den Freuden und fröhlichen Abenteuern einer frei und auf eigene Gefahr und Rechnung, ohne die Frau, unternommenen Fahrt ins Blaue!
Aber selbst Pechle hatte für diesmal genug! Selbst er, der doch am besten geschlafen hatte, erwachte mit einem äußerst wüsten Kopfe, sah sich beim Erwachen außergewöhnlich wirrsinnig in seinem weiten Schlafgemache um und fand für alle seine angeborenen und zuerworbenen Ideen einen nur zu ausreichenden Tanzplatz rings um sich her.
Halten wir uns an Pechle; an ihm, den »die ganze Geschichte doch eigentlich gar nichts anging«, und der einen Augenblick lang sogar noch imstande war, sich solchergestalt und derartig zu ermuntern und aufzurichten, wird uns das Maß der Zerfahrenheit nach allen Seiten hin deutlich. Schon als er seine Toilette vollendet hatte und die Treppe hinunterstieg, war er sich des Faktums, dass ihn die Geschichte sehr viel angehe, merkwürdig klar bewusst, und er hatte niemals so bescheiden und schüchtern vor dem Eintreten an eine Tür gepocht, wie jetzt,