Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe
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»Mein Teil Anzüglichkeiten und Grobheiten habe ich mit Geduld angehört: jetzt aber hab ich mein voll gerüttelt und geschüttelt Maß. Sieh nach dem Wagen, Schnödler; – Base Hagebucher und Herr Vetter, ich bitte, es nicht für ungut zu nehmen, wenn mein Rat und meine Meinung in eurem Hause Ombrage und Ärgernis erregt haben, sie waren gut gemeint; aber allzu viel lass ich mir auch nicht bieten. Sieh nach den Pferden, Schnödler, und empfiehl dich den Herrschaften, und was den Herrn Afrikaner betrifft, so mag er tun und lassen, was er will, und was den Herrn Wegebauinspektor Wassertreter angeht, so sage ich nichts, als dass ich seine gehorsamste Dienerin bin, aber meine Ansicht über ihn nur aus christlicher Barmherzigkeit bei mir behalte. Guten Abend.«
Guten Abend kann jeder sagen; aber die Tante Schnödler konnte den freundlichen Wunsch auf eine ganz besondere Art ausdrücken – siehe, es war gleich einem Habichtschrei über einem Hühnerhofe, gleich einem Steinwurf in einen Sperlingshaufen! Mit Flattern und Flügelschlagen erhob sich die Verwandtschaft, und jegliches Temperament brachte sich in seiner Weise zur Geltung. Vergeblich suchte die Mutter Leonhards durch Bitten und Beschwörungen die erregten Gemüter zu besänftigen. Jedes gute Wort fiel gleich einem Tropfen Öl in das Feuer, und nur um das Truthahnsgekoller in der Versammlung auszurotten, hätte jemand dem Onkel Stadtrat und dem Vetter Sackermann den Hals umdrehen müssen, und selbst der Elfenbeinhändler vom Weißen Nil hielt sich innerhalb der Grenzen der gebildeten europäischen Welt und tat diese Tat nicht.
Der Steuerinspektor Hagebucher, der Vater des Hauses, welcher der Majorität der Verwandtschaft und vor allem der Tante Schnödler vollständig recht in ihren Anschauungen gab und im Innersten seiner zahlenkundigen Seele den Vetter Wassertreter zu Atomen verrieb, sagte nichts als: »Da haben wir’s.«
Er verschwand hinter den Wolken seiner Pfeife und rührte sich nicht von seinem Stuhl; denn wie er seine Leute schätzte, so kannte er sie auch und wusste, dass unter bewandten Umständen kaum eine Macht des Himmels, geschweige denn eine irdische Gewalt die Bande der Freundschaft, Neigung und Liebe für den heutigen Abend wieder fest zuziehen könne. Der Familienrat löste sich auf in seine einzelnen Bestandteile, die Agnaten und Kognaten zogen ab, wie sie gekommen waren, jeder und jede mit dem befriedigenden Bewusstsein, höchst praktisch, verständig und wohlwollend einem sehr zerfahrenen und verfahrenen Zustande gegenüber die Ehre und das Ansehen der Gevatternschaft vertreten zu haben. Die gelbe Kutsche verschwand in dem Staube der Landstraße; die Pappelbäume zeigten wieder einmal, dass sie imstande seien, einen sehr langen Schatten zu werfen, und der Vetter Wassertreter zeigte, dass er dasselbe tun könne. Er hielt aus und saß dem grimmig schweigsamen Steuerinspektor stumm, aber behaglich gegenüber und schob erst, als es vollständig Dämmerung geworden, die kurze Pfeife in die Brusttasche.
»Tue mir die Liebe an und lass dem Jungen seine Zeit«, sagte er aufstehend. »Wenn aber nicht, so zeige, dass du ein gutes Herz hast, mach dem Jammer ein Ende und wirf den Lump schnell aus dem Hause. Frau Base, ich sage meinen schönsten Dank für die angenehme Unterhaltung; gib mir einen Kuss, Lina, und sage dem Leonhard – na, lass nur, ich will ihm schon selber meine Meinungen sagen. Horch, Philomele schlägt im Gebüsch, und dort steigt der silberne Mond über den friedlichen Hütten des Dorfes auf. Jetzt holt der Mensch sein treues Ross aus dem Stall der Schenke, und einsam trabt der Einsame zu seinem einsamen Gezelt. Auch meinerseits guten Abend!«
»Guten Abend!« sagte der Vater Hagebucher sehr kurz und rührte sich auch dieses Mal nicht vom Platz. Die Mutter Leonhards aber begleitete den Wegebauinspektor bis zu der Tür des Gartens:
»O Vetter, Vetter, was soll daraus werden?«
»Ja, Base Hagebucher, diese Frage habe ich sehr häufig an das Schicksal gestellt und selten die Antwort bekommen, welche ich zu hören wünschte. Im letzten Grunde lebt man nur deshalb, und das ist wenigstens ein Trost. Wer will so ungeduldig sein? Auch beim Wegebau kann man lernen, dass die Vorsehung ihre Zeit haben will. Wünsche eine geruhsame Nacht, Base; hören Sie, jetzt geht der Alte drinnen los – jaja, ich weiß schon seit dem Jahre siebenzehn, dass wir in einer kuriosen Welt leben. Wünsche recht wohl zu ruhen, Base Hagebucher.«
Sechstes Kapitel
Wo war der Mann aus Troglodytice geblieben? In dem Augenblicke, in welchem die Tante Schnödler und mit ihr sämtliche Verwandtschaft rauschend und entrüstet emporfuhr, hatte er sich geduckt, war hinter dem Rücken seiner Lieben an der Wand dahingeschlichen, hatte mit einem Sprung die Haustür erreicht und mit einem zweiten Sprunge über die Gartenhecke hinter dem väterlichen Hause das freie Feld. Seit ihn die Baggaraneger jagten und fingen, hatte er nicht eine solche Gelenkigkeit der Glieder entwickelt, war er sich nicht einer solchen Schwung- und Schnellkraft bewusst geworden; aber wie die Baggaraneger blieben ihm auch die süßen Heimatsgefühle auf den Fersen, und er konnte ihnen nicht entwischen. Da lag er im Grase unter der Hecke, atmete aus und zitierte einige auf die Tante Schnödler bezügliche Stellen des Korans; dann fielen die Schatten des Abends auch über ihn, der Mond ging ebenfalls über ihm auf, und er – Leonhard Hagebucher – sprach ein anderes Wort aus, welches der Prophet freilich nicht gesagt hatte und welches nicht nachgeschrieben werden kann, ohne den Anstand bedenklich zu verletzen.
Nur ganz allmählich gewann die Grille in dem Schlehenbusch neben ihm den schrillen Heimatstönen in