Gesammelte Werke. Wilhelm Raabe

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Gesammelte Werke - Wilhelm  Raabe Gesammelte Werke bei Null Papier

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plötz­li­chen Fra­ge ge­recht wer­den konn­te, kam atem­los sein Schwes­ter­chen, wel­ches sich mit den bei­den an­de­ren Mäd­chen dem Dor­fe zu hin­ter den He­cken ver­lo­ren hat­te, zu­rück­ge­lau­fen.

      »Leon­hard, Leon­hard, du musst schnell heim­kom­men, die Tan­te Schnöd­ler ist da!«

      Der Afri­ka­ner sprach ei­ni­ge, viel­leicht nicht sehr freund­li­che Wor­te in der Spra­che von Dar-Fur; doch er be­fand sich noch zu kur­ze Zeit wie­der in der Hei­mat, um nicht al­len ih­ren Ru­fen Fol­ge zu leis­ten. Auch Fräu­lein Ni­ko­la von Ein­stein sprang la­chend in die Höhe.

      »So geht es mir doch im­mer – je­des Mal, wenn ich im bes­ten Zuge bin, mein Herz aus­zu­schüt­ten! Nun wis­sen Sie doch noch nicht das all­er­ge­rings­te von mir, mein Herr, und es steht da­hin, ob Sie in al­ler Ewig­keit mehr er­fah­ren wer­den. Die gute Stun­de ist vor­über­ge­gan­gen, und die Tan­te Schnöd­ler ist an­ge­kom­men, und der große Fa­mi­li­en­rat über Herrn Leon­hard Ha­ge­bu­cher be­ginnt – ge­hen wir heim und un­ter­wer­fen wir uns den Din­gen, Ver­hält­nis­sen und Ver­häng­nis­sen, da wir doch nicht um un­sern Wil­len ge­fragt wer­den.«

      Leon­hard woll­te ihr die Hand bie­ten, um sie den et­was stei­len Ab­hang hin­un­ter­zu­füh­ren; sie aber wies sei­ne Hil­fe la­chend von sich.

      »Nein, nein! Bei bes­se­rer Über­le­gung wer­de ich doch lie­ber blei­ben, wo ich bin, und mei­nen Kranz vollen­den. Ich zie­he den Wald al­len Fa­mi­li­en­rä­ten vor; denn ich habe auch un­ter den letz­te­ren ge­lit­ten und weiß da­von zu sin­gen und zu sa­gen.«

      Das hel­le La­chen des Hoffräu­leins ver­klang hin­ter der Wal­de­cke, und mit ge­senk­tem Kop­fe schritt Leon­hard Ha­ge­bu­cher auf dem Pfa­de, wel­cher die Wie­se ent­lang dem na­hen Dor­fe zu­führ­te, weit­bei­nig fort. Das Schwes­ter­chen hat­te sich an sei­nen Arm ge­hängt und trip­pel­te atem­los an sei­ner Sei­te und blick­te von Zeit zu Zeit stumm, aber lie­be­voll-ängst­lich zu dem erns­ten, fast fins­tern Ge­sich­te des Bru­ders in die Höhe.

      Es wa­ren am heu­ti­gen Tage gra­de drei Wo­chen seit dem Wie­der­kom­men des afri­ka­ni­schen Ge­fan­ge­nen ver­flos­sen, und wie kein Kind im Dor­fe Bums­dorf den ge­heim­nis­vol­len, stau­nen­den Schre­cken vor dem großen, brau­nen Mann, der mit den Men­schen­fres­sern aus ei­ner Schüs­sel ge­ges­sen hat­te, voll­stän­dig über­wun­den hat­te, so war auch für Fräu­lein Lina Ha­ge­bu­cher die­ser Bru­der im­mer noch ein ho­hes, un­säg­li­ches Wun­der und Mys­te­ri­um und konn­te für noch län­ge­re Zeit nicht in sei­ner gan­zen Fül­le und Be­deu­tung aus­ge­dacht wer­den. Was Nip­pen­burg und Bums­dorf aber im gan­zen und großen an­be­traf, so nah­men sie, ob­gleich ein Mann, der aus dem un­be­kann­ten in­ners­ten Afri­ka heim­ge­kehrt, je­den­falls et­was Un­ge­wöhn­li­che­res war als der aben­teu­er­lichs­te Ame­ri­kafah­rer, das Ding be­reits viel küh­ler und ge­las­se­ner, und die lie­be wei­te­re Ver­wandt­schaft, die sich heu­te im Hau­se des Steue­rin­spek­tors ver­sam­meln soll­te, nahm es so­gar sehr kühl und sehr ge­las­sen. Dem Man­ne aus dem Tu­mur­kie­lan­de wuch­sen mit den Haa­ren auf dem à la Tu­mur­kie ge­scho­re­nen Schä­del auch die un­an­ge­neh­me­ren eu­ro­päi­schen Ge­füh­le wie­der, und wir müs­sen ihm die vol­le Be­rech­ti­gung zu­ge­ste­hen, auf man­chem Wege und auch auf die­sem durch das Dorf Bums­dorf den Kopf hän­gen zu las­sen.

      Er hat­te viel ge­dul­det bis zu sei­ner Be­frei­ung durch den Herrn Kor­ne­li­us van der Mook; dann war er in dem Hau­se sei­ner El­tern er­wacht und hat­te jene sel­te­ne Mi­nu­te des vol­len, si­che­ren Glückes ge­kos­tet. Aber schnell wie im­mer war die­ser Au­gen­blick vor­über­ge­gan­gen – ein Mor­gen­schlum­mer, ein son­ni­ger Tag in der Geiß­blatt­lau­be, am Abend ein Gang durch die Wie­sen und Korn­fel­der nach dem Wal­de! Schon das nächs­te Er­wa­chen brach­te wie­der das ers­te lei­se An­spü­len bit­te­rer Flu­ten, und nach acht Ta­gen war Leon­hard Ha­ge­bu­cher voll­stän­dig da­heim, das heißt, er wuss­te Be­scheid, und Be­scheid zu wis­sen ge­hört und stimmt ge­wöhn­lich nicht im ge­rings­ten zu und mit dem Glück. Wohl saß er noch in der Geiß­blatt­lau­be an der Land­stra­ße und freu­te sich der Son­ne des Va­ter­lan­des, der Stim­men und Schrit­te der al­ten El­tern, des lieb­li­chen La­chens der klei­nen hüb­schen Schwes­ter, wohl such­te und fand er in Stadt und Dorf hun­dert und aber hun­dert freund­li­che Ju­gen­derin­ne­run­gen; man kam ihm im­mer noch an den meis­ten Or­ten mit Gruß und Hand­schlag herz­lich ent­ge­gen, und es gab im­mer noch vie­le Leu­te, wel­che sei­ner Odys­see mit Herz­klop­fen lausch­ten und dank­bar für al­les wa­ren, was er in die­ser Hin­sicht zu bie­ten hat­te; aber – aber dem Un­be­ha­gen wuch­sen doch täg­lich mehr zün­geln­de, sau­gen­de Po­ly­pen­ar­me, mit wel­chen es die See­le des mü­den Wan­de­rers fes­ter und im­mer fes­ter um­schlang. Nun wuss­te die Welt be­reits, dass der Sohn des Steue­rin­spek­tors Ha­ge­bu­cher als ein ar­mer Mann aus der Frem­de heim­ge­kehrt sei, und die wun­der­vol­len Il­lu­sio­nen, wel­che sich Nip­pen­burg ge­macht hat­te, wa­ren schnell in ihr Ge­gen­teil um­ge­schla­gen, und man teil­te ein­an­der un­ter be­däch­ti­gem Kopf­schüt­teln mit, dass ein Va­ga­bond in alle Ewig­keit ein Va­ga­bond blei­ben wer­de und dass es viel­leicht um vie­les bes­ser ge­we­sen wäre, wenn die Moh­ren da­hin­ten am Äqua­tor den un­nüt­zen Men­schen bei sich be­hal­ten hät­ten. In der Kis­te, wel­che dem ar­men Leon­hard auf ei­nem Schub­kar­ren gen Bums­dorf nach­ge­fah­ren wor­den war, be­fan­den sich kei­ne Sä­cke voll Dia­man­ten und Per­len, kei­ne Schach­teln voll Gold­staub, son­dern höchs­tens ei­ni­ge afri­ka­ni­sche Merk­wür­dig­kei­ten zum An­den­ken für die nä­he­ren Freun­de und Ver­wand­ten. Herr Leon­hard Ha­ge­bu­cher konn­te aus dem In­halt die­ses Rei­se­kas­tens kei­ne Vil­la bau­en und nicht nun­mehr im Schat­ten sei­nes Par­kes, an sei­nem ei­ge­nen Her­de und in der Ge­sell­schaft ei­nes lie­ben­den Wei­bes aus den bes­sern Stän­den sei­ne Tage ver­brin­gen. Kei­ne Nip­pen­bur­ger Mut­ter hät­te ei­nem sol­chen in der Luft ste­hen­den In­di­vi­du­um ihre Toch­ter zur Ehe ge­ge­ben, und das war noch das al­ler­we­nigs­te: Leon­hard Ha­ge­bu­cher hat­te wäh­rend sei­ner Ge­fan­gen­schaft im Tu­mur­kie­lan­de so ziem­lich al­les ver­ges­sen, was dem Men­schen in un­sern zi­vi­li­sier­ten Zu­stän­den zu sei­nem Fort­kom­men ver­hilft, ja ihn nur not­dürf­tig auf der Stel­le auf­recht er­hält. Jede Wis­sen­schaft, jede Kunst, jede Tech­nik war über ihn hin­aus­ge­schrit­ten; wo sonst die ho­hen Was­ser sich um­ge­trie­ben hat­ten, da war jetzt öder Sand oder frucht­ba­res Acker­land, und wo vor­dem Sand und Wie­sen ge­we­sen wa­ren, da jag­ten sich jetzt die Wel­len. In Abu Tel­fan im Tu­mur­kie­lan­de hat­te den ar­men Ge­fan­ge­nen nichts ge­stört als die phy­si­sche rohe Ge­walt und die Sehn­sucht nach der Frei­heit, das Heim­weh nach dem Va­ter­lan­de; jetzt in der Hei­mat fing al­les an, ihn zu stö­ren und zu be­un­ru­hi­gen; er war fremd ge­wor­den in der Zi­vi­li­sa­ti­on, in Eu­ro­pa, in Deutsch­land, in Nip­pen­burg und Bums­dorf; eine un­end­li­che und in je­der Wei­se be­grün­de­te Angst vor den Din­gen und vor sich sel­ber muss­te sich sei­ner be­mäch­ti­gen – ein Schritt wei­ter, und er konn­te sich nach dem Tu­mur­kie­lan­de lei­se zu­rück­seh­nen: die Wür­de und Frei­heit, die Bil­dung und Sit­te des eu­ro­päi­schen Men­schen

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