Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
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Darum hatte ihn ja auch Annas Ruf ›Du und dein Führer‹ am Morgen so sehr gekränkt. Gewiss, er hatte bisher an den ehrlichen Willen des Führers, an seine Größe und seine guten Absichten geglaubt. Man brauchte nur alle diese Schmeißfliegen und Speckjäger, denen es nur um Geldscheffeln und Lebeschön ging, aus seiner Umgebung zu entfernen, und alles wurde besser. Aber bis es so weit war, machte er nicht mit, er nicht, und das wusste Anna, die Einzige, mit der er wirklich mal ein Wort sprach, auch ganz gut. Nun schön, sie hatte es in ihrer ersten Aufregung gesagt, er würde es mit der Zeit schon vergessen, er konnte ihr nie was nachtragen.
Was es freilich mit dem Führer und mit diesem Kriege auf sich hatte, das musste er sich erst noch genau überlegen. All so etwas ging nur langsam bei ihm. Andere waren von überraschenden Erlebnissen sofort beeindruckt, sie redeten los oder schrien und taten irgendetwas, bei ihm wirkte es lange, lange.
Wie er da so mitten im Sausen und Kreischen seiner Werkstatt steht, den Kopf etwas erhoben und den Blick langsam von der Dicktenhobelmaschine zu der Bandsäge, zu den Naglern, Bohrern, Bretterträgern wandern lässt, merkt er, wie diese Nachricht von Ottos Tod und ganz besonders Annas und Trudels Verhalten immer weiter in ihm wirken. Er denkt nicht eigentlich darüber nach, er weiß vielmehr genau, dass dieser Liederlich, dieser Tischler Dollfuß,1 schon vor sieben Minuten die Werkstatt verlassen hat und dass die Arbeit in seiner Reihe darum stockt, weil er auf dem Abtritt wieder mal eine Zigarette rauchen muss oder weil er dort Reden schwingt. Er gibt ihm noch drei Minuten, dann holt er ihn rein, er selber!
Und während sein Auge nun zu dem Zeiger der Wanduhr gleitet und feststellt, dass Dollfuß tatsächlich in drei Minuten zehn Minuten geschwänzt haben wird, fällt ihm nicht nur dieses hassenswerte Plakat über Trudels Kopf ein, denkt er nicht nur darüber nach, was das eigentlich genau ist: Landes- und Hochverrat und wo man so was wohl erfährt, sondern er denkt auch daran, dass er einen vom Pförtner ihm übergebenen Brief in der Jackentasche trägt, durch den der Werkmeister Quangel kurz und knapp aufgefordert wird, pünktlich fünf Uhr in der Beamtenkantine zu erscheinen.
Nicht, dass dieser Brief ihn irgendwie aufregt oder stört. Er hat früher, als die Möbelherstellung noch im Gange war, oft auf die Fabrikleitung gemusst, um die Herstellung eines Möbelstückes zu besprechen. Beamtenkantine ist etwas Neues, aber das ist ihm gleich, bis fünf Uhr sind es aber nur noch sechs Minuten, und bis dahin möchte er den Tischler Dollfuß gerne an seiner Säge haben. So geht er eine Minute früher, als er beabsichtigt hat, los, um den Dollfuß zu suchen.
Aber er findet ihn weder auf den Abtritten noch auf den Gängen, noch in den anliegenden Werkstätten, und als er in die eigene Werkstatt zurückkehrt, zeigt die Uhr eine Minute vor fünf Uhr, und es wird höchste Zeit für ihn, wenn er nicht unpünktlich sein will. Er klopft sich schnell den gröbsten Sägestaub von der Jacke und geht dann eilig hinüber in das Verwaltungsgebäude, in dessen Erdgeschoss sich die Beamtenkantine befindet.
Sie ist ersichtlich für einen Vortrag vorbereitet, eine Rednertribüne ist errichtet, ein langer Tisch für die Vorsitzenden, und der ganze Saal ist mit Stuhlreihen ausgefüllt. Er kennt das alles von den Versammlungen der Arbeitsfront, an denen er oft hat teilnehmen müssen, nur dass diese Versammlungen stets drüben in der Werkkantine stattfanden. Der einzige Unterschied ist der, dass dort rohe Holzbänke standen statt der Rohrstühle hier, und dann saßen die meisten dort wie er in Arbeitskluft, während es hier mehr braune und auch graue Uniformen gibt, die Beamten in Zivil verschwinden dazwischen.
Quangel hat sich auf einen Stuhl ganz nahe an der Tür gesetzt, um beim Schluss der Rede möglichst rasch wieder in seine Werkstatt zu kommen. Der Saal ist schon ziemlich gefüllt, als Quangel gekommen ist, zum Teil sitzen die Herren schon auf den Stühlen, ein anderer Teil steht noch auf den Gängen und an der Wand in Grüppchen, sie reden miteinander.
Sie alle aber, die hier versammelt sind, tragen das Hakenkreuz. Quangel scheint der Einzige ohne das Parteiabzeichen zu sein (von den Wehrmachtsuniformen natürlich abgesehen, aber die tragen dafür das Hoheitszeichen). Es ist wohl ein Irrtum, dass sie ihn hierher eingeladen haben. Quangel wendet den Kopf aufmerksam hin und her. Ein paar Gesichter kennt er. Der dicke Bleiche dort, der schon am Vorstandstisch sitzt, das ist der Herr Generaldirektor Schröder, den kennt er vom Sehen. Und der kleine Spitznasige mit dem Klemmer, das ist der Herr Kassierer, von dem er jeden Sonnabend seine Lohntüte in Empfang nimmt und mit dem er sich schon ein paarmal wegen der hohen Abzüge kräftig gestritten hat. Komisch, wenn der an seiner Kasse steht, hat er nie das Parteiabzeichen getragen!, denkt Quangel flüchtig.
Aber die meisten Gesichter, die er sieht, sind ihm völlig unbekannt, es sind wohl fast nur Herren aus den Büros, die hier sitzen. Plötzlich wird Quangels Blick scharf und stechend, in einer Gruppe hat er den Mann entdeckt, den er vorhin vergeblich auf dem Abtritt gesucht hat, den Tischler Dollfuß. Aber der Tischler Dollfuß trägt jetzt keine Arbeitskluft, er trägt einen feinen Sonntagsanzug und redet mit den zwei Herren in Parteiuniform ganz so, als seien sie seinesgleichen. Und jetzt trägt auch der Tischler Dollfuß ein Hakenkreuz, dieser Mann, der ihm schon ein paarmal in der Werkstatt durch sein leichtsinniges Gerede aufgefallen ist! So ist das also!, denkt Quangel. Das ist also ein richtiger Spitzel. Womöglich ist der Mann gar kein richtiger Tischler und heißt auch nicht Dollfuß. War Dollfuß nicht ein Kanzler in Österreich, den sie ermordet haben? Alles Schiebung – und ich habe nie was gemerkt, ich dummes Aas!
Und er fängt an, darüber nachzugrübeln, ob der Dollfuß schon in seiner Werkstatt war, als der Ladendorf und der Tritsch abgelöst wurden und alle munkelten, sie seien ins KZ gewandert.
Quangels Haltung hat sich gestrafft. Achtung!, hat es