Hans Fallada – Gesammelte Werke. Hans Fallada
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Nach dem Essen wollte sie an ihren Liebling, den Ältesten, an Karlemann wollte sie schreiben, der in Polen war. Sie war ganz und gar nicht mit ihm einverstanden, besonders nicht, seit er in die SS eingetreten war. Man hörte in der letzten Zeit sehr viel Schlechtes von der SS, besonders gegen die Juden sollte sie so gemein sein. Aber das traute sie ihm doch nicht zu, dass ihr Junge, den sie einmal unter dem Herzen getragen hatte, Judenmädchen erst schändete und dann gleich hinterher erschoss. So was tat Karlemann nicht! Woher sollte er es auch haben? Sie hatte nie hart oder gar roh sein können, und der Vater war einfach ein Waschlappen. Aber sie würde doch versuchen, im Brief eine Andeutung zu machen, dass er anständig bleiben müsse. Natürlich musste diese Andeutung ganz vorsichtig gemacht werden, dass nur Karlemann sie verstand. Sonst bekam er Schwierigkeiten, wenn der Brief dem Zensor in die Finger geriet. Nun, sie würde schon auf irgendwas kommen, vielleicht würde sie ihn an ein Kindheitserlebnis erinnern, wie er ihr damals zwei Mark gestohlen und Bonbons dafür gekauft hatte oder, besser noch, als er sich schon mit dreizehn an die Walli rangemacht hatte, die nichts war wie eine gemeine Nutte. Was das damals für Schwierigkeiten gemacht hatte, ihn von dem Weibe wieder loszukriegen – er war solch ein Wutkopf manchmal, der Karlemann!
Aber sie lächelt, als sie an diese Schwierigkeiten denkt. Alles kommt ihr heute schön vor, was mit der Kindheit der Jungens zusammenhängt. Damals hatte sie noch Kraft in sich, sie hätte ihre Bengels gegen die ganze Welt verteidigt und gearbeitet bei Tag und gearbeitet bei Nacht, bloß um ihnen nichts abgehen zu lassen, was andere Kinder mit einem anständigen Vater bekamen. Aber in den letzten Jahren ist sie immer kraftloser geworden, ganz besonders, seit die beiden in den Krieg ziehen mussten. Nein, dieser Krieg hätte nicht kommen dürfen; war der Führer wirklich ein so großer Mann, hätte er ihn vermeiden müssen. Das bisschen Danzig und der schmale Korridor – und darum Millionen Menschen in tägliche Lebensgefahr gebracht – so was tat kein wirklich großer Mann!
Aber freilich, die Leute erzählten ja, dass er so was wie unehelich sei. Da hatte er wohl nie eine Mutter gehabt, die sich richtig um ihn kümmerte. Und so wusste er auch nichts davon, wie Müttern zumute sein kann in dieser ewigen, nie abreißenden Angst. Nach einem Feldpostbrief war es ein, zwei Tage besser, dann rechnete man, wie lange es her war, seit er abgeschickt worden war, und die Angst begann von Neuem.
Sie hatte längst den Stopfstrumpf sinken lassen und nur so vor sich hin geträumt. Nun steht sie ganz mechanisch auf, rückt die Brühe von der besser brennenden Flamme auf die schwächere und setzt den Kartoffeltopf auf die bessere auf. Sie ist noch dabei, als bei ihr die Klingel geht. Sofort steht sie wie erstarrt. Enno! denkt es in ihr, Enno!
Sie setzt den Topf leise hin und schleicht auf ihren Filzsohlen lautlos zur Tür. Ihr Herz geht wieder leichter: vor der Tür, ein bisschen ab, sodass sie gut gesehen werden kann, steht ihre Nachbarin, Frau Gesch. Sicher will sie wieder was borgen, Mehl oder ein bisschen Fett, das sie stets wiederzubringen vergisst. Aber Eva Kluge bleibt trotzdem misstrauisch. Sie sucht, soweit es das Guckloch in der Tür erlaubt, den ganzen Treppenflur ab und lauscht auf jedes Geräusch. Aber alles ist in Ordnung, nur die Gesch scharrt manchmal ungeduldig mit den Füßen oder sieht nach dem Guckloch hin.
Eva Kluge entschließt sich. Sie macht die Tür auf, aber nur so weit die Kette es zulässt, und fragt: »Na, was soll’s denn sein, Frau Gesch?«
Sofort überstürzt Frau Gesch, eine abgemergelte, halb zu Tode gearbeitete Frau, deren Töchter auf Kosten der Mutter einen guten Tag leben, sie mit einer Flut von Klagen über die endlose Wascherei, immer anderer Leute dreckige Wäsche waschen und nie satt zu essen, und die Emmi und die Lilli tun rein gar nichts. Nach dem Abendessen gehen sie einfach weg und lassen der Mutter den ganzen Abwasch. »Ja, und Frau Kluge, was ich Sie bitten wollte, ich habe da im Rücken was, ich glaube, ’nen Furunkel oder doch was Eitriges. Wir haben bloß einen Spiegel, und meine Augen sind so schlecht. Wenn Sie sich das mal ansehen wollten – ich kann doch wegen so was nicht zum Doktor, wann habe ich denn Zeit für ’nen Doktor? Aber vielleicht können Sie es sogar ausdrücken, wenn’s Ihnen nicht eklig ist, manche sind in so was eklig …«
Während Frau Gesch klagend immer so weiterredet, hat Eva Kluge ganz mechanisch die Kette losgemacht, und die Frau ist in die Wohnküche hineingekommen. Eva Kluge hat die Tür wieder zuziehen wollen, da hat sich ein Fuß dazwischengezwängt, und schon ist auch Enno Kluge in ihrer Wohnung. Sein Gesicht ist ausdruckslos wie immer; dass er doch etwas erregt ist, merkt sie nur daran, dass seine fast haarlosen Lider stark zittern.
Eva Kluge steht mit hängenden Armen da, ihre Knie beben so sehr, dass sie sich am liebsten zu Boden sinken ließe. Der Redestrom von Frau Gesch ist ganz plötzlich versiegt, schweigend sieht sie in die beiden Gesichter. Es ist ganz still in der Küche, nur der Brühentopf brodelt leise.
Schließlich sagt Frau Gesch: »Na, nun habe ich Ihnen den Gefallen getan, Herr Kluge. Aber ich sage Ihnen: einmal und nicht wieder. Und wenn Sie Ihr Versprechen nicht halten und fangen das wieder an mit der Nichtstuerei und dem Kneipenlaufen und dem Pferdewetten …« Sie unterbricht sich, sie hat in das Gesicht von Frau Kluge gesehen, sie sagt: »Und wenn ich Mist gemacht habe, ich helfe Ihnen auf der Stelle, das Männeken rauszuschmeißen, Frau Kluge. Wir beide schaffen das doch wie nischt!«
Eva Kluge macht eine abwehrende Bewegung. »Ach, lassen Sie schon, Frau Gesch, es ist ja doch alles egal!«
Sie geht langsam und vorsichtig zum Korbstuhl und lässt sich in ihn sinken. Sie nimmt auch wieder den Stopfstrumpf zur Hand, aber sie starrt ihn an, als wüsste sie nicht, was das ist.
Frau Gesch sagt ein wenig gekränkt: »Na, denn guten Abend oder Heil Hitler – ganz wie den Herrschaften das lieber ist!«
Hastig sagt Enno Kluge: »Heil Hitler!«
Und langsam, als erwache sie aus einem Schlaf, antwortet Eva Kluge: »Gute Nacht, Frau Gesch.« Sie besinnt sich. »Und wenn wirklich was mit Ihrem Rücken ist«, setzt sie hinzu.
»Nee, nee«, antwortet Frau Gesch, schon vor der Tür, hastig. »Mit dem Rücken ist nichts, das habe ich nur so gesagt. Aber ich misch mich gewiss nicht wieder in die Sachen von anderen Leuten. Ich seh’s ja doch: ich habe nie Dank davon.«
Damit hat sie sich aus der Tür geredet; sie ist froh, von diesen beiden schweigenden Gestalten