Gesammelte Werke. Isolde Kurz

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Gesammelte Werke - Isolde Kurz Gesammelte Werke bei Null Papier

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Nie­der­bruch. Al­fred ge­trau­te sich gar nicht in sein Ve­ne­dig zu­rück und hielt mit sei­nem auf­ge­reg­ten und auf­re­gen­den Ei­fer das gan­ze Haus in Atem. Ich hat­te Mama von dem To­ten weg in mein Zim­mer ge­holt, Al­fred dräng­te mich hin­aus und setz­te sich in den Kopf, sel­ber bei ihr wa­chen zu wol­len, wozu er nicht im­stan­de war, weil der Wil­le bei ihm nicht Herr wur­de über die Er­schöp­fung. Er sank denn auch gleich auf mei­nem Bett in schwe­ren Schlaf. Kei­ne Mög­lich­keit ihn zu we­cken und aus dem Zim­mer zu ent­fer­nen, wo sei­ne Ge­gen­wart nur hin­der­lich war. Ich sehe mich sel­ber ste­hen, wie ich, weil kein An­ruf half, ihn in den Ar­men auf­hob und, weil er im­mer wie­der zu­rück­fiel, ihn schließ­lich in der hel­len Verzweif­lung an sei­nen kur­z­en star­ken Haa­ren in die Höhe zog, wor­über er am Ende zu sich kam, auch nicht im ge­rings­ten be­lei­digt war, das treue Herz, son­dern sich gern über­re­den ließ, in sein ei­ge­nes Bett zu ge­hen. An ei­nem der nächs­ten Aben­de er­bot sich Er­win, der wie­der ein­mal vor­über­ge­hend im Haus wohn­te, zur Nacht­wa­che. Aber er hat­te da­von sei­ne ei­ge­ne Vor­stel­lung, denn er brach­te gleich sei­ne Ma­trat­ze mit her­ein, die er auf den Bo­den leg­te und sich dar­auf, um in die De­cke ge­wi­ckelt so­gleich wie sein Bru­der in un­er­weck­li­chen Schlaf zu fal­len, wor­über so­gar die kran­ke Jo­se­phi­ne im Ne­ben­zim­mer lach­te. Ich mach­te bei die­ser Ge­le­gen­heit die oft­mals wie­der­hol­te Er­fah­rung, um wie viel schwe­rer es dem männ­li­chen Ge­schlech­te fällt sich ohne ei­ser­nen Zwang von oben her, wie ihn der Sol­dat ge­wöhnt ist, des Schlafs zu er­weh­ren; schon die Jün­ger am Öl­berg ha­ben das be­wie­sen. Von den Brü­dern hat­te nur Ed­gar so fei­ne und fes­te Ner­ven, um es an Über­win­dung der kör­per­li­chen Be­dürf­nis­se und an un­be­grenz­ter Fä­hig­keit des Wach­blei­bens den Frau­en des Hau­ses gleich­zu­tun. Er hat­te in der trau­ri­gen Zeit uns­re Wa­chen ge­teilt und dazu das Schwers­te, die Verant­wor­tung, ge­tra­gen als star­ke Füh­rer­na­tur, die er bis zu sei­nem Ende blei­ben soll­te.

      1 Eine Ge­stalt aus mei­nem »Ju­gend­land« <<<

      2 Man lacht nicht mehr, wenn man ver­hei­ra­tet ist <<<

       Und doch, das Aug’ sieht sich an Schön­heit satt,

       Es krankt das Herz, das kei­ne Wur­zeln hat, –

      so ging es nun seit ei­ner Wei­le schon in mei­nem Le­bens­lied wei­ter. Ich bin dem jun­gen We­sen, von dem ich hier er­zäh­len muss, lan­ge Zeit in der Rück­schau gram ge­we­sen, dass sie so schwer zu sich sel­ber fand, ja ich schäm­te mich ein we­nig an ihr we­gen ih­res Zeit­ver­trö­delns und dass sie so oft nach Tand und Lar­ven griff, dass sie so früh wach und doch so spät reif wur­de. Aber seit ich sie nun beim Sam­meln mei­ner Erin­ne­run­gen nä­her ins Auge fass­te, habe ich ein­sich­ti­ger von ihr den­ken ge­lernt. Und da ich mich be­mü­he, über alle, von de­nen ich zu re­den habe, ge­recht zu re­den, sehe ich nicht ein, warum ich die glei­che Bil­lig­keit nicht auch der er­wei­sen soll­te, die von al­len am un­be­quems­ten ge­bet­tet war. Vi­el­leicht rei­fen auch im Nichtstun oder Zeit­ver­trö­deln Be­ga­bun­gen ge­sün­der als bei zu frü­her und großer Be­trieb­sam­keit, die sich schnell aus­gibt. »Der Herr gibt es den Sei­nen im Schla­fe« heißt ja wohl nichts an­de­res, als dass dem Schla­fen­den Kräf­te zu­strö­men, die er zum Wer­den und Wach­sen braucht. Wenn sie nach Tand und Lar­ven griff, so war’s, dass sie dar­in Sym­bo­le sah, und Sym­bo­le se­hen war ihr ei­gent­li­ches Le­bens­ge­setz. Vor al­lem aber stamm­te sie aus je­nem welt­frem­den Ge­schlecht, von dem Höl­der­lin sagt, ih­nen sei »der Fehl, dass sie nicht wis­sen wo­hin, in die un­er­fah­re­ne See­le ge­ge­ben«.

      So darf ich denn von ihr sa­gen, dass sie ähn­lich wie an­de­re Nichts­tu­er und un­nüt­ze Bro­tes­ser, wie etwa der Grü­ne Hein­rich, der auch kei­ne li­nea­re Rich­tung im Blut hat­te, zwar auf ih­rer Fahrt ins Un­er­reich­li­che man­chen Um­weg ge­macht und oft sich um­ge­schaut hat, aber doch im­mer ohne Er­mat­ten wei­ter­ge­gan­gen ist. Und auch das darf ich für sie in An­spruch neh­men, dass so oft das Le­ben sie mit ei­ner kla­ren For­de­rung auf­rief, die Ver­träum­te auf die Füße sprang und sich mel­de­te, auch nie­mals frag­te, ob der Auf­trag ein leich­ter oder ein schwe­rer war. Mir scheint, nur wer auf li­nea­rem Weg nach Er­reich­li­chem wan­dert, kön­ne sich das Recht neh­men, sie zu schel­ten, aber er hat, wenn er an­ge­kom­men ist, auch schon das Sei­ni­ge da­hin.

      Wenn ich Nichts­tu­er und un­nüt­ze Bro­tes­ser sag­te, muss auch die­ses Wort rich­tig ver­stan­den sein: das Brot, das ich aß, war mein ei­ge­nes, selbs­t­er­wor­be­nes. Aber soll­te das ein Le­ben aus­fül­len: Ro­ma­ne sich­ten, Ro­ma­ne über­set­zen oder über­setz­te nach­prü­fen von der Art, wie sie eben­so gut nicht sein konn­ten und in der Tat schon nach we­ni­gen Jahr­zehn­ten nicht mehr wa­ren? Da ging es ja nicht um die hohe Über­set­zungs­kunst, wie mein Va­ter sie aus­üb­te, die ih­ren Lohn in sich sel­ber trug, als er Gott­frieds zau­ber­haf­te Dich­ter­spra­che nach­bil­de­te und mit Ari­ost »Feen­brot aß«: nach sol­chen Wer­ken und sol­chen Leis­tun­gen herrsch­te im letz­ten Vier­tel des vo­ri­gen Jahr­hun­derts kei­ne Nach­fra­ge mehr. Es war ganz pro­sa­i­sches Le­se­fut­ter, was vom Buch­han­del ge­for­dert wur­de, und et­was so Köst­li­ches, wie mei­nen Nie­vo, der be­zeich­nen­der­wei­se dem da­ma­li­gen Ita­li­en ganz un­be­kannt war und erst jetzt in sei­nem Va­ter­land zu Ehren ge­kom­men ist, fand ich in der gan­zen ita­lie­ni­schen Li­te­ra­tur je­ner Tage nicht wie­der. Die er­zäh­len­den Wer­ke, die mir durch die Hän­de gin­gen, be­weg­ten sich im Schlepp­tau der Fran­zo­sen, wenn auch der rohe Zo­la­sche Na­tu­ra­lis­mus in den fei­ne­ren Ve­ris­mus Ver­gas ver­edelt war. Es darf bei die­ser Ge­le­gen­heit den da­ma­li­gen Ita­li­e­nern nach­ge­rühmt wer­den, dass sie die Mode des Schmut­zi­gen nicht mit­mach­ten und bei der Dar­stel­lung ge­schlecht­li­cher Din­ge die Gren­ze des Er­träg­li­chen nicht ver­letz­ten, denn das künst­le­ri­sche Maß­hal­ten war noch im­mer ihr ed­les Grie­che­ner­be.

      Ich wuss­te also nicht, was ich woll­te oder soll­te. Auf die Ly­rik, in der ich noch nach der ei­ge­nen Aus­drucks­form tas­te­te, wenn auch schon dann und wann ein Stück ge­lang, das seit­dem ge­blie­ben ist, ließ sich kein Le­bens­schick­sal bau­en. No­vel­lis­ti­sche Ver­su­che, die ich da und dort dru­cken ließ, blie­ben mir sel­ber fremd und äu­ßer­lich, denn ich wag­te mei­ne See­le nicht hin­ein­zu­gie­ßen, weil die­se See­le noch zu scheu und teils auch zu un­reif war. Ich fühl­te ja selbst, dass ich die Wei­hen noch nicht hat­te. Jun­ge Men­schen brauch­ten da­mals län­ger zur Ent­wick­lung, sie wuch­sen un­be­wus­s­ter und le­bens­fer­ner auf als die heu­ti­gen, von früh an auf Zwe­cke ein­ge­stell­ten; da­für blieb ih­nen aber auch die in­ne­re Kind­heit er­hal­ten. – Bei mir kam noch ein be­son­de­res Hemm­nis hin­zu: ich hat­te als Kind, das ohne Schu­le auf­wuchs, mit grau­sen­der Ehr­furcht die Schulauf­sät­ze mei­ner Brü­der be­staunt, in de­nen all die rei­fe Le­bens­weis­heit der Leh­rer nie­der­ge­schla­gen war, in alt­klu­gen Wor­ten, wie sie ein Kind gar nicht fin­det, denn es war Vor­schrift, sich nicht von dem an­ge­ge­be­nen Wege zu ent­fer­nen –, wenn sich der fan­ta­sie­vol­le Ed­gar einen Sei­ten­sprung er­laub­te,

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