begonnenen Märchen waren mein erster Sprung da hinein; sie wurden jedoch nicht am Schreibtisch verfasst, sondern großenteils an Baldes Bettrand sitzend mündlich, um dem Leidenden die Zeit zu vertreiben, und erst hernach auf seinen Wunsch niedergeschrieben. Ich machte die kleine Sammlung in Florenz mit Liebe fertig und beschloss sie mit dem »Leuchtkäfer, der kein Mensch werden wollte«, einer Erfindung, in der ein stilles und zartes Herzensleid, nur mir vernehmlich, leise nachzitterte. Auf den Rat einer Bekannten, die gute Beziehungen zu England hatte, übersetzte ich das kleine Ding, das mir in eigener Weise am Herzen lag, ins Englische, um es in einem hiefür geeigneten englischen Blatte drucken zu lassen. Bevor ich es aus den Händen gab, legte ich es einem Freunde, dem feinohrigen englischen Dichter Charles Grant, zur sprachlichen Begutachtung und allenfallsigen Berichtigungen vor. Der Spruch, den ich da empfing, war mir ebenso überraschend wie lehrreich. Zu berichtigen gebe es nichts, die Wortwahl sei unanfechtbar, der Satzbau richtig, nur sei kein einziger Satz englisch. Betreten fragte ich, ob er mir denn nicht helfen könne, ein richtiges Englisch daraus zu machen? Nein, war der Bescheid, denn in englisch gefühltem Englisch wäre es kein »Leuchtkäfer« mehr. Der Geist der beiden Sprachen sei so grundverschieden, dass das Englische für ein solches Schweben zwischen Lächeln und Wehmut, ein solch unausgesprochenes Rühren an letzte Dinge mitten in kindlicher Märchenunschuld gar keine Töne habe und dass gewiss ein feiner und gebildeter Engländer die kleine Legende lieber in meinem zwar fremdartig aber nicht unangenehm klingenden Englisch lesen werde als in einem richtigen, aus dem der ganze Märchenreiz weggeblasen wäre. Ich befolgte den Rat und bekam ein unerwartet gutes Honorar, aber nie den Druck zu Gesicht, was gelegentlich die Vermutung nahelegte, dass das Märchen unter anderem Namen gedruckt worden sei. Die bedeutsame Frage von der Übersetzbarkeit dichterischer Erzeugnisse wurde mehrfach mit dem englischen Freund erörtert, wobei es mir sehr einleuchtend war, zu hören, dass zwar der deutsche Übersetzer mittelst seiner zu unendlicher Dehnbarkeit und Geschmeidigkeit erzogenen Sprache jede englische Gedankenfärbung unverfälscht ausdrücken könne, nicht aber umgekehrt der Engländer den deutschen Gedanken, wenn er in der Tiefe des Volksgemüts wurzle, weil seine Sprache als die eines hervorragend praktischen, gänzlich unspekulativen Volkes, ein einseitiges, nach der philosophischen Richtung unentwickeltes Werkzeug sei. Er hatte es selbst zu erproben, als ihn unsere gemeinsame Freundin, Frau Jessy Hillebrand, die englische Gattin des bekannten Essayisten, bei ihrer Übersetzung von Schopenhauers »Vierfacher Wurzel« zu Hilfe rief, an welcher Wurzel auch der feine Sprachkenner Grant gewaltig zu kauen fand, weil das Englische dem Schopenhauerschen Deutsch einen fast unüberwindlichen Widerstand entgegensetzte. – Ich hatte später oft Gelegenheit, mich dieser Gespräche zu erinnern, wenn sich mir die Erfahrung von der schweren Übersetzbarkeit meiner wenn auch noch so durchsichtigen Sprache erneuerte: jenes mitschwingende Etwas, das dem Fremden den Zugang zu erschweren scheint, ist nichts anderes als die mitschwingende, im Verborgenen wohnende deutsche Stammesseele. Der Massenerfolg, den unsere jüngstverflossene Literaturperiode im Ausland hatte und noch immer hat, geht eben auf das Fehlen jenes Etwas zurück, wodurch ein internationales, innerlich undeutsches Deutsch so leicht zu übersetzen ist und eine internationale Geisteswelt die deutsche Geistigkeit vor dem Ausland vertritt.
Die Märchen fanden in Deutschland freundlichen Empfang; sie wurden zuerst einzeln in Zeitschriften, später bei Göschen, Stuttgart, als kleines Büchlein unter dem Titel »Fantasien und Märchen« gedruckt. Sie blieben mir wert, weil ich darin zum ersten Mal meinen eigenen natürlichen Ton gefunden hatte, besonders in dem Märchen vom Leuchtkäfer. Dem englischen Freund, der so warm in meine Seele hinein empfand, ging es ebenso, er sah in dem kleinen Büchlein ein Versprechen für die Zukunft. It is no life but it hints at life, sagte er, um mich zu ermutigen. Aber so ein kleines Schwälblein macht keinen Sommer, und ich war noch nicht weit genug, um fernerhin aus den eigenen Fingern zu saugen.
Um die tiefe Enttäuschung, von der ich befallen war, nachträglich selber zu verstehen, muss ich das damalige Zeitgesicht aus meiner heutigen Überschau noch einmal zurückbeschwören. Das Hinschwinden der überpersönlichen Ziele war ja einer der Gründe, die uns aus Deutschland fortgetrieben hatten. Aber im öffentlichen Leben Italiens sah es nicht besser aus, die Auffassung von den Werten des Daseins war die gleiche, und auch sonst gab es der Parallelen mancherlei. Beiden Völkern war ein jahrhundertealter Traum, um den viel edelstes Blut geflossen, über Nacht erfüllt. Beide standen nach langer politischer Minderwertigkeit und Missachtung, die sie zum Schmerz ihrer Besten erduldet hatten, geehrt und stark unter den Völkern Europas. Aber beiden wurde die äußere Erfüllung zum inneren Verhängnis. Wo die Väter geopfert hatten, wollte man genießen, allein man genießt nicht ungestraft, wo man nicht auch zum Opfern bereit ist.
Es war ja die Blütezeit des Kapitalismus, wo der Reichtum nicht als etwas äußerlich Anhängendes erschien, sondern als ein zweites, unantastbares Gottesgnadentum. Nicht nur dass die Besitzenden in den Augen der anderen höhere Wesen waren, sie waren es auch in ihren eigenen. Mehr als heute noch vorstellbar, schwebten jene Bevorzugten in einer goldenen Wolke von Gewissheit dahin, ihr Glück mit Verdienst verwechselnd. Sie lebten zwar mit dem geistigen Adel auf dem Fuße der Gleichheit, aber es lag doch noch ein anderer Schmelz in der Stimme der Hausfrau, wenn sie eine durchreisende Finanzgröße empfing, als wenn ein armer Künstler oder Gelehrter ihr Haus betrat. Der Geist war ihnen Schmuck des Lebens, aber das Leben selber war der Reichtum.
Auch das Wirtsland befand sich zwischen den zwei Wellenbergen Garibaldi und Mussolini in einem langen und tiefen Wellental. Zu der natürlichen Sinnlichkeit eines sinnenfrohen und sinnenstarken Volkes gesellte sich der allgemeine Materialismus der Zeit. Das öffentliche Leben stockte und stickte in dem parlamentarischen Sumpf, Regierungen kamen und gingen, die Minister galten für käuflich, aus der hohen Politik floss die Skepsis über das ganze Land. Die höchste bürgerliche Stellung besaß wie in Frankreich der Advokat, und dieser als der gewandteste Redner hatte auch die nächste Anwartschaft auf einen Sitz im Parlament, wobei niemand von ihm erwartete, dass er andere als persönliche Zwecke verfolge. Die alten Kämpfer, die auf den Schlachtfeldern geblutet oder gar noch in Gefängnissen gesessen hatten, standen höflich gegrüßt aber als vergangene Größen abseits, die Jugend lächelte blasiert und skeptisch.