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Dass ich ihn verlieren könnte, trat mir nie so recht deutlich vor die Seele, benommen, wie ich war, von der steten Sorge um die Mutter. Es kamen ja jetzt die Tage, wo sie ganz in der Pflege ihres herzkranken Jüngsten aufging, sich nicht mehr schlafen legte und niemals von ihrer geliebten Pflicht abgelöst sein wollte. Sie alterte und wurde bleich wie ein Schemen; freilich genügte dann ein Wort, das in ihrem Innern zündete, sie augenblicks zu verwandeln und zu verjüngen. Der Vater aber stand noch hoch und aufrecht, mit den ersten Schneeflocken in Haar und Bart und dem immer wieder hervorbrechenden Glanz der Augen. Der heiße Sommer 1873 brachte eine ängstigende Erscheinung. Geistige Anstrengung und ein leichter Sonnenstich hatten eine Überreizung des Gehirns verursacht, die ihn rastlos umtrieb. In diesem Zustand wollte er nur mich um sich haben, weil er bei mir die Ruhe fand, die seinen Nerven nottat. Täglich machten wir damals zusammen lange, stürmende Gänge über Felder und Wiesen, die ihn zu erfrischen schienen. Dabei erlebte ich einmal einen heftigen Schrecken, als auf dem Heimweg unter dem Museum ein stark angetrunkener Korpsstudent mir mit glasigen Augen allzu frech ins Gesicht starrte und mein Vater auf ihn zutrat, wie um ihn zu zermalmen; zum Glück rissen die Kommilitonen den Berauschten weg. Mit Eintritt der kühleren Jahreszeit schien sich das Leiden zu bessern. Aber ich erinnere mich noch gut, dass die Bangigkeit nicht mehr aus meiner Seele wich, Angstträume suchten mich heim, ich fühlte in allen Nerven das Heranrücken eines Unglücks, wusste aber nicht, von welcher Seite es erwarten, denn der Sorgen waren so viele. Da kam der verhängnisvolle 10. Oktober, der uns den Vater unvorbereitet und ohne Abschied hinwegnahm.
Ich weiß nicht, ob es Seelen gibt, die imstande sind, einen jähen, unermesslichen Verlust, besonders wenn es der erste ist, augenblicklich mit seiner ganzen Schwere ins Bewusstsein aufzunehmen. Wenn ich später Menschen in solchen Fällen sogleich in ein verzweifeltes Weinen ausbrechen sah, so blieb es mir immer ungewiss, ob dies nicht eher eine Abwehrbewegung gegen die Erkenntnis oder gar ein unbewusst vollzogenes Herkommen sei. Ich jedenfalls konnte, auf der Straße von der Schreckensbotschaft überrascht, das Geschehene im vollen Sinn des Wortes nicht fassen, und dieses Unvermögen verursachte eine schaurige Leere, die quälender war als der wildeste Schmerz. Beim atemlosen Heimstürzen gingen die Stimmen des Tages weiter in meinem Ohr, die jähe Lähmung des Gefühls war durch das Wort »tot«, das ich mir innerlich zurief, ohne einen Sinn darin zu finden, nicht zu heben. Und das friedevolle, aber zu Stein gewordene Haupt in den Kissen, leicht zur Seite geneigt, als wollte es die Welt nicht mehr sehen, machte mir das Rätsel des Todes nur noch rätselhafter. Ein Märtyrerantlitz, in dem das tiefe Lebensleid durch überirdische Hoheit nicht ausgelöscht, aber überwunden war. Kein Nachglanz einer Freude lag darauf, nur das Erlösungswort: Es ist vollbracht. Ich lernte nun plötzlich sein Wesen, das ich bisher nur bruchstückweise im Licht der Stunde gesehen hatte, als ein Ganzes zu überschauen und begriff den nie ausgesprochenen Schmerz um die unverstandenen Werke seines Genius und den noch größeren um die nicht geschaffenen, die durch den Druck des Lebens in ihm ertötet worden waren. Und sein Alleinstehen inmitten einer liebenden, aber für ihn zu lauten Familie. Es fehlte die Seele, die nur für ihn gelebt und ihm in wunschloser Hingabe durch ihr Eingehen vergütet hätte. Seiner Gattin war unter den zerreibenden Mutterpflichten und dem heroischen Kampfe gegen die Not die Zeit für ihn immer knapper geworden. Ich war zu jung und von innen und außen zu sehr bedrängt für das, was er bedurft hätte: ein stilles Hand in Hand durch feierliche Abendlande Gehen. Und jetzt kam alles Erkennen zu spät. Wie oft hatte ich schon geträumt, ich hätte eines meiner Lieben verloren, und als der Morgen durchs Fenster sah, war alles wieder gut. Dass es jetzt nie wieder gut werden konnte, musste erst Tag für Tag neu erlebt werden.
In dieser jähen Wende lernte ich meine Mutter von einer völlig neuen Seite kennen, die sie aber späterhin bei allen schweren Schicksalsschlägen hervorgekehrt hat: die leidenschaftliche Frau, die jedes Unglück Jahre voraus beweinte, stand jedes Mal, wenn es wirklich eintraf, in der erhabensten Fassung da. Am Morgen nach unseres Vaters Tode fand ich sie, wie sie im Wohnzimmer, das sie sorglicher als sonst aufgeräumt hatte, dem Kanarienvogel das Wasser wechselte. Du sollst nicht mit uns leiden müssen, armes Tierchen, hörte ich sie sagen. War’s heldenhafte Selbstüberwindung oder vermochte auch sie den Tod nicht zu erfassen? Ich konnte es nie ergründen. Eine Gehobenheit lag über ihrem ganzen Wesen, die mich den schwersten Rückschlag fürchten ließ. Es kam keiner. Sie fasste sich ganz fest in die Zügel. Mit einem Blick übersah sie unsere unsäglich schwierige Lage und ihre Pflicht, das Ganze zusammenzuhalten. Jetzt zeigte sich erst recht die sittliche Macht ihrer Natur in der Wirkung auf ihre Umgebung, da die wilden Jungen trotz der Erziehungsfehler, die sie begangen hatte, nicht um Haaresbreite von dem engen Wege abwichen, auf dem es nun weiterzugehen galt. Die Jüngeren mussten im Heranwachsen auf all das verzichten, was sie den Ältesten hatten genießen sehen. Sie taten es, ohne zu murren. Es war ja das Selbstverständliche, aber das Selbstverständliche ist nicht immer das, worauf man mit Sicherheit zählen kann.
Das Alltagsleben renkte sich wieder ein. Aber eine Stille lag jetzt über dem Hause, in der die Stimme des Toten lauter zu den Seinigen redete als es je die des Lebenden getan hatte. Paul Heyse, der ihm in seinem letzten Jahrzehnt nahe Verbundene, nahm sich mit Freundestreue des geistigen Nachlasses, dem wir noch nicht gewachsen waren, an und gab schon im folgenden Jahr die gesammelten Werke heraus. Man hatte Korrekturen zu lesen, Texte zu vergleichen und Stoff für die Lebensbeschreibung herbeizuschaffen. Im Sommer 1874 übersandte sein alter Freund Mörike nach einer ergreifenden Begegnung mit mir in Stuttgart und einem darauffolgenden Besuch, den Mama und ich ihm in Bebenhausen machten, unseres Vaters Jugendbriefe, die zusammen mit denen Mörikes einen köstlichen, später von J. Bächtold bei der Herausgabe nicht völlig gehobenen Schatz bildeten. Dazwischen kamen neue Erschütterungen durch die wiederkehrenden schweren Krankheitsanfälle, die unseren Jüngsten mit steigender Gefahr heimsuchten. Die beiden Mediziner Edgar und Alfred konnten schon mit ärztlicher Hilfe beispringen und teilten die Nachtwachen