Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Wieder bei den Griechen
Im Jahr, das auf meines Vaters Tod folgte, kam Ernst Mohl von einer Hofmeisterstelle in der Pfalz noch einmal zur Vollendung seiner Studien auf kürzere Zeit nach Tübingen zurück. Und jetzt machte dieser Freund meiner Tugend, der stets für die Bedürfnisse meiner Natur das meiste Verständnis gezeigt und mich durch seinen Glauben gestützt hatte, mir ein Geschenk, das mich auf alle Jahre meines Lebens bereichern und erheben sollte: er unterrichtete mich im Griechischen.
Den Homer in der Ursprache zu lesen, war mein alter Wunsch, allein die Zeit, die vor uns lag, war knapp, und ich zweifelte, ob es möglich sein würde, in der Schnelligkeit so weit zu kommen. Der unternehmende Lehrer aber war seiner Sache sicher. Wir begannen nach kurzer Vorbereitung mit dem Xenophon, der mir durch seine immer wiederkehrenden Wendungen schnell einen gewissen Wort- und Formenschatz übermittelte. Während des Sommers wurden vier Bücher der Anabasis gelesen. Dann unterbrach eine Reise nach Wien die Studien, die noch kaum zwei Monate gedauert hatten. Als ich, erfüllt von den Eindrücken der Kaiserstadt, vom Burgtheater mit der Wolter und Lewinsky und nicht am wenigsten vom Wurstlprater, zurückkehrte, wurde das Griechische frisch aufgenommen. Und zwar ging es jetzt ohne weiteres ans Ziel meiner Wünsche, die Ilias, die mir von den beiden wunderbaren Gedichten immer das unvergleichlich höhere war. Die Begeisterung für den Inhalt trieb uns mit Sturmschritten vorwärts. Am ersten Tag wurden fünfundzwanzig Zeilen gelesen, am nächsten fünfzig, am dritten hundert, und jeden Tag wurde nun die Zahl verdoppelt, bis wir dahin kamen, in einer jeweiligen Sitzung einen ganzen Gesang aufzuarbeiten, wenn es auch bis zum Abend dauerte. Da der Umtrieb im gemeinsamen Wohnzimmer dabei zu störend war und die sparsame Josephine in dem kalten Frühwinter kein zweites Zimmer heizen wollte, brachte der eifrige Lehrer zuweilen ein paar Scheiter aus seinem eigenen Vorrat unter dem Mantel mit, was dann doch die Strenge der sorgenden Schaffnerin zum Schmelzen brachte, dass sie uns ein ruhiges Lernstübchen wärmte. Unbeschreiblich war mein Entzücken am Urtext meiner Lieblingsdichtung. Der treffliche alte Voß hatte mir ja mit dem Inhalt wohl auch die Ehrwürdigkeit der homerischen Sprache übermittelt, aber er konnte nur ihr Alter wiedergeben, nicht ihre Jugend, weil ihm keine junge Sprache zur Verfügung stand. Wie anders klang das alles nun im Griechischen! Aus jedem Wort und jedem Partikelchen strömte Jugend herein, eine Jugend, wie es seitdem keine mehr auf der Welt gegeben hat. Oft war es, wie wenn ein Kind in seiner bilderhaften Unschuldsprache Dinge redet, in denen sich ein höherer Sinn spiegelt. Da, wo Hektor die Warnung des ungünstigen Vogelflugs zurückweist, lässt Voß den Helden antworten:
Ein Wahrzeichen nur gilt: fürs Vaterland tapfer zu kämpfen.
Wacker und gut. Aber wie lautete nun die Stelle bei Homer?
Ein Vogel ist der beste: die Heimat beschirmen.
Es war, als ob mitten in dem harten deutschen Frostwetter der schöne griechische Vogel leibhaft zum Fenster hereingeflattert käme, dass ich vor Überraschung einen Schrei ausstieß. In nicht mehr als dreißig Tagen wurde die ganze Ilias mein, eine Meisterleistung des Lehrers, die ihm später niemand glauben wollte. Die Brüder, die mindestens ihre vier Jahre im Gymnasium hatten schanzen müssen, bevor sie überhaupt an den Homer kamen, schüttelten ungläubig die Köpfe und ärgerten sich doch zugleich ein wenig über die von ihnen verbrauchte Zeit; besonders Alfred rächte sich am Lehrer und an der Schülerin durch spöttische Bemerkungen. Allein wir ließen uns nicht stören. Wenn es auch etwas holterpolter durch die Grammatik ging, so war doch der Lehrer zu gewissenhaft, um meine Findigkeit im Erraten des Sinnes durchgehen zu lassen; es musste jede schwierige Form vorgenommen und genauer untersucht werden, bevor er meine Ungeduld weitereilen ließ. Daher mir trotz dem von den Brüdern bemängelten Laufschritt der Geist der Sprache recht wohl aufging, wenn ich auch natürlich in der Grammatik nicht sattelfest werden konnte wie sie. Aber ein wie viel größerer Lebensgewinn floss mir aus den karg bemessenen Studien zu, als ihnen die dauerhaftere Kenntnis der unregelmäßigen Verba und der sichere Gebrauch des Aorists gewähren konnte. Meine glückseligen Kindertage kamen mir noch einmal in verstärktem Glanze zurück. Da stand wieder das unsterbliche Roß des Achilleus, wie es die wallende Mähne trauernd durch das Joch senkt, während es dem Halbgott sein nahes Ende verkündigt. Und ich verstand jetzt klarer, was mich am Bilde dieses Helden von jeher so einzig gefesselt hatte: dass es keine höhere Verkörperung des Idealismus durch die Poesie gibt als ihn. Sämtliche Gestalten der Ilias sind nach dem Leben gebildet von dem vielredenden Nestor bis zu dem rohen Draufgänger Diomedes, von Odysseus ganz zu schweigen, aus dem der griechische Mensch mit seinem geschichtlichen Charakter blickt. Achill allein ist nicht aus der Erfahrung, sondern aus der Seele geholt. In ihm sehen wir, wie das adligste aller Völker sich den adligsten aller Menschen dachte. (Die griechische Geschichte hat nur einen hervorgebracht, der an ihn erinnert: Alexander, in dem man mitunter die bewusste Angleichung zu spüren glaubt.) Als Sohn der zartesten Göttin verbindet der Heros das Feingefühl mit dem Dämonischen und erscheint durchweg auf das Gemütsleben gerichtet. Nicht die Taten des Achilleus will Homer singen, sondern seinen Zorn. Darum wird er nur gegen das Ende kämpfend eingeführt, während man die andern immer beim Totschlagen sieht. Indes jene würgen, sitzt er am Meer und spielt die Leier, aber es ist dafür gesorgt, dass wir nicht vergessen, wie ohne ihn nichts Rechtes geschehen kann. Jedes Lob der andern wird eingeschränkt durch den Zusatz »nach dem tadellosen Achilleus«, wie der König von jedem Zins den Löwenanteil empfängt; nur die Schlauheit wird ihm abgesprochen: sie gehört