Gesammelte Werke. Isolde Kurz
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Mein Griechischlernen hatte die Gemüter auch nicht milder gegen mich gestimmt. Ich hätte diesen Schatz ja gerne als tiefstes Geheimnis gehütet, wäre das bei dem Temperament meiner Mutter möglich gewesen. Unwissenheit galt damals noch als besondere Zierde der deutschen Jungfrau, die noch ganz unter dem Banne des Gretchenideals stand; an keinerlei geistigen Dingen durfte sie irgendwelchen Anteil äußern, und große Namen mussten ihr so ungeläufig sein, dass sie mit der Zunge darüber stolperte. Schon Hamlet kannte den Pfiff. »Ihr stellt euch aus Eitelkeit unwissend, gebt Gottes Ebenbildern verhunzte Namen.« Wenn Frauenlyrik an die Öffentlichkeit trat, so musste sie ganz zahm und hausbacken sein oder in formlose Empfindelei zerfließen. Heyse und Bodenstedt bemühten sich damals vergeblich, ein paar Gedichte von mir in ich weiß nicht mehr welchen Almanach zu bringen. Der Verleger verweigerte die Aufnahme, er fand die Sprache für ein junges Mädchen zu kraftvoll. Da war es denn schließlich auch kein Wunder, wenn die gute Stadt Tübingen sich dagegen auflehnte, dass es in ihren Mauern eine Familie gab, die ihre einzige Tochter unter geistigen und körperlichen Übungen aufwachsen ließ wie ein Fürstenkind der italienischen Renaissance oder sagen wir schlechtweg: wie ein junges Mädchen des damals noch ungeborenen 20. Jahrhunderts.
Ein Tropfen brachte endlich die Schale zum Überfließen. Wenn ich in den heißen Sommern so Tag für Tag die Brüder zu dem großen Schwimmbecken, genannt die Badschüssel, eilen sah, während die Damen sich mit den engen Badehüttchen am Neckar begnügen mussten, ohne Gelegenheit, das Schwimmen zu erlernen, stieg in mir nach und nach der umstürzlerische Gedanke auf, den Senat zu bitten, dass wenigstens an einem Tag der Woche, und wäre es auch nur für eine Stunde, das Schwimmbad den Männern verschlossen und dem weiblichen Geschlecht zur Verfügung gestellt werde. Der städtische Schwimm- und Turnlehrer und eine liebenswürdige junge Professorsgattin von auswärts waren meine Mitschuldigen. Den beiden schadete es in der öffentlichen Meinung weiter nichts, die ganze Entrüstung wandte sich gegen mich als die Anstifterin des unsittlichen Vorschlags. Wie, man wollte die Fantasie der männlichen Jugend beim Baden durch die Vorstellung vergiften, dass in diesem selben Wasserbecken sich kurz zuvor junge Mädchenleiber getummelt hatten? Und wenn gar einer oder der andere sich im Gebüsch verstecken würde, um heimlich dem Schwimmunterricht der Damen zuzusehen? Der Untergang aller guten Sitten stand vor der Tür, wenn mir gestattet wurde, dem Unwesen des Reitens, dem man nicht hatte steuern können, das noch ärgere des Schwimmens hinzuzufügen. Eine würdige Matrone übernahm es, mir im Namen sämtlicher Mütter und sämtlicher Töchter ihr Quousque tandem, Catilina! – zu deutsch: Wo hinaus mit dir, du Schädling am Gemeinwesen? – zuzurufen. Es war einer der schicksalsvollen Augenblicke, wo ein kleiner Anstoß eine lange verzögerte Absicht zum Durchbruch bringt. Sie hatte noch nicht ausgesprochen, so stand in mir der Entschluss fest, nunmehr Tübingen auf ganz zu verlassen.
Es war hohe und höchste Zeit, dass einmal ein entscheidender Lebensschritt geschah, von dem bisher nur die Wärme des mütterlichen Nestes den flügge gewordenen Vogel zurückgehalten hatte. Ein Puff war dazu nötig, und ich danke es der wackeren Kleinstädterin von Herzen, dass sie ihn mir gab. Ich hatte ja doch allerlei gelernt, Sprachen und anderes, womit ich auswärts ebenso gut und besser vorwärts kommen konnte als daheim. Wohin ich wollte, wusste ich gleichfalls, denn ich hatte schon bei wiederholten Besuchen in München den Boden abgetastet und die Hoffnung geschöpft, dort Fuß fassen zu können. Dass Erwin mir dorthin vorangegangen war als Zögling der Akademie der bildenden Künste, erleichterte meiner Mutter die Trennung, denn sie konnte die Geschwister eins in des anderen Obhut empfehlen. Auch ich riss mich getrosten Mutes los, weil sie mich als Stütze in häuslichen Stürmen nicht mehr brauchte. Es gab deren keine mehr. Edgar und Alfred, die ehemals feindlichen Brüder, begannen jetzt in ihre lebenslange Freundschaft hineinzuwachsen. Und an unseres Balde Krankenbett waren die beiden Mediziner nützlicher als ich.
Der arme, so liebenswürdig angelegte Junge, der in der Pause zwischen den Krankheitsstürmen ängstlich geschont und gehütet werden musste, hatte rein gar nichts von seinem jungen Leben als die aufopfernde Liebe seiner Mutter. Diese nahm er mit der Naivität des Kranken ganz für sich in Beschlag. Wenn er nicht selber lesen konnte, worin er unermüdlich war, so musste sie ihm Tage und halbe Nächte lang vorlesen oder Geschichten erzählen. Zuweilen durfte ich sie ablösen. Ich vereinfachte dann das Verfahren, indem ich das Buch, das er zu kennen verlangte, rasch durchflog und ihm den Inhalt erzählte. Eines Tages wünschte er, dass ich ihm Bret Hartes Goldene Träume, eine im »Novellenschatz des Auslands« erschienene Goldgräbergeschichte, vorlese. Da mir die Zeit dazu gebrach, gab ich vor, das Buch schon zu kennen, und erzählte ihm schlankweg ein Märchen von goldenen Träumen, das ich aus dem Stegreif erfand. Dieses Märchen machte ihm so viel Vergnügen, dass ich es immer aufs neue erzählen und schließlich mit denselben Worten für ihn niederschreiben musste. Es war das erstemal, dass ich in Prosa schrieb; ich hatte bisher geglaubt, mich nur metrisch ausdrücken zu können. Ohne des kranken Bruders innige Freude an den Goldenen Träumen, die den Anfang meines späteren Märchenbuchs bildeten, wäre ich vielleicht nie auf diesen Weg gekommen.
Auf