Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer. Ludwig Ganghofer
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Читать онлайн книгу Die schönsten Heimatromane von Ludwig Ganghofer - Ludwig Ganghofer страница 64
Lolo kniete am Saum eines Beetes, um die verwelkten Almrauschdolden von den Stöcken abzulösen. Ihr Bruder, den die Joppe und das Lederhöschen besser kleidete als das schwarze Studentenröckl, saß im Schatten des Harfenbaumes am Tisch. Trotz der vierzehn »ganz freien« Tage hatte er seine Schulbücher mit zum Sebensee genommen, und da saß er jetzt über einer schriftlichen Aufgabe aus der römischen Geschichte. An der Feder war ihm die Tinte trocken geworden. Mit der Hand den Kopf stützend, blickte er sinnend zum dunstigen Blau des Himmels auf.
»Bubi?« fragte die Schwester. »Wo bist du mit deinen Gedanken?«
Aufatmend schob er die Feder hinters Ohr und nahm die Wangen zwischen die beiden Fäuste. »Weißt du, die Geschichte dieser Gracchen gibt mir furchtbar zu denken! Die haben es doch wirklich gut mit dem armen römischen Volk gemeint. Und doch haben sie unrecht bekommen und sind zugrunde gegangen. Eine solche Ungerechtigkeit sollte der liebe Gott nicht zulassen. Freilich, die alten Römer haben noch an ihre heidnischen Götter geglaubt, die doch in Wirklichkeit gar nicht existierten. Wir Christen glauben doch jetzt an den rechten, wahren Gott. Aber es ist doch eigentlich heutzutage auch nicht viel anders als im Altertum.«
Die Schwester lächelte. »Hast du das in der Schule gelernt?«
»Gottbewahre! Von so was reden sie doch in der Klasse nicht. Aber man hört und sieht doch so viel Unglück und so viel Trauriges. Weißt du, da muß ich immer drüber nachdenken, und da fallen mir oft Dinge ein, die ich mir gar nicht erklären kann.«
»Sag mir so ein Ding!«
»Alles Gute und Schöne in der Welt, das kommt doch von Gott, nicht wahr?«
»Ja, Bubi.«
»Und dann, ich weiß schon, es gibt ja auch Unglücksfälle – zum Beispiel, wenn ein Haus einstürzt, wie neulich in Innsbruck, und sieben arme Menschen erschlägt –, da kann natürlich der liebe Gott nichts dafür. Die Menschen hätten das Haus eben besser bauen sollen.«
»Da hast du recht!«
»Aber es gibt doch auch viel Unglück, an dem die Menschen nicht schuld sind. Ein Bergsturz oder eine große Überschwemmung. Oder der Blitz, der in ein Haus schlägt. Denkt nur, er schlägt sogar am liebsten in die Kirchen! Wie darf denn der liebe Gott so was zulassen? Oder eine Lawine, die einen ganzen Wald verschüttet? Das kann ich mir nicht vorstellen, daß Gott eigens den Wald hat wachsen lassen, nur damit er zugrunde geht. Und dann die Raubtiere zum Beispiel! Wo kommen denn die her? Und das Ungeziefer? Und die giftigen Pflanzen? Und alle die anderen bösen Dinge? Sag mir, Lo, wer hat denn das alles gemacht?«
»Gott! Wer sonst?«
»Aber Lo! Wie kann Gott dann lieb und gut sein?«
»Doch! Er ist es.«
»Das versteh ich nicht. Ich bitte dich, Lo, das mußt du mir erklären!«
»Sieh dir einmal die Sonne an! Ist Gott, der sie erschaffen hat, nicht groß und gut? Und die Berge dort? Wie schön sie sind! Und hier, sieh nur, die Blumen!«
»Freilich, ja, das alles ist gut und schön, das kann nur Gott erschaffen haben. Aber das Böse, Lo?«
»Das Böse? Ich kenne nichts Böses.«
»Aber Lo!« Mit großen, erschrockenen Augen sah Gustl die Schwester an.
»Sag mir, Bubi, was nennst du denn eigentlich böse?«
In seiner Verwunderung wußte der kleine Bursch nicht gleich eine Antwort zu finden. »Ich – weißt du, ich meine, was den Menschen nicht gefällt – und was ihnen schadet, das alles ist doch böse.«
»Meinst du?« Lo erhob sich und schüttelte die welken Blüten von ihrem Schoß in ein Körbchen, das auf dem Kiesweg stand. »Also, die Henne ist gut, weil sie Eier legt, sagt der Bauer. Und der Fuchs, sagt er, ist böse, weil er die Henne frißt. Und gut ist das Pulver, und gut ist die Bleikugel, mit der man den bösen Fuchs erschießen kann. Aber ist denn der Fuchs nicht auch ein Geschöpf, das leben will? Wird der Fuchs nicht sagen: › Ich bin gut, und bös und grausam ist der Jäger, der mich erschießt‹? Wer hat nun recht von den beiden?«
Gustl begann diesen Widerspruch von der heiteren Seite zu nehmen und lachte.
»Nein, Bubi, da sollst du nicht lachen. Ich mein es ernst. Wer von den beiden hat recht?«
»Freilich, wenn ich ein Fuchs wäre, würd ich auch sagen: ›Bös sind die Menschen, die mich erschießen.‹ Aber ich bin doch kein Fuchs. Ich bin ein Mensch.«
»Und deshalb willst du recht haben? Aber jetzt denk einmal: neulich bin ich unserem Nachbar begegnet. Der war vor Zorn ganz rot im Gesicht. Und weißt du, warum?«
»Weil der Fuchs ihm die Henne gestohlen hat?«
»Nein! Weil der böse Jäger den guten, nützlichen Fuchs erschoß, er auf dem Feld des Nachbars alle Maulwürfe und Engerlinge verspeiste.«
Gustl schwieg, und während er die Brauen furchte, blickte er sinnend zur Schwester auf, die zur Bank kam und sich an seine Seite setzte. Dann sagte er langsam. »Du, Lo! Ich glaube, jetzt versteh ich, wie du es meinst. Da hat doch eigentlich jeder recht. Und keiner. Und der Fuchs ist nicht gut und nicht bös. Er ist halt ein Fuchs. Und wie er ist, so muß man ihn nehmen – weil er einmal da ist.«
»Ja, Bubi! Siehst du, wenn du ruhig nachdenkst, dann kommst du schon selbst auf das Richtige. Wie mit dem Fuchs, so ist es mit allen anderen Dingen. Alles in der Welt ist so, wie es sein muß, wie es immer war und immer bleiben wird. Gut und bös? Das hat mit den Dingen der Welt nichts zu schaffen. Das sind nur Worte, die der Mensch in seinem Eigennutz erfunden hat. Und den Bau der großen unendlichen Welt, das ganze herrliche Wunderwerk der Schöpfung nur nach den kleinen Dingen zu beurteilen, die uns Nutzen oder Schaden bringen, ist das nicht töricht und unschön?«
»Ja, Lo, da hast du wirklich recht!«
»Und sieh nur, Kind, es gibt doch so viel schöne Dinge auf der Welt, die uns lehren, die Schöpfung zu lieben und zu bewundern. An die müssen wir uns halten, wenn wir Freude am Leben haben wollen – nicht an die anderen, die uns böse, grausam und ungerecht erscheinen, und weil wir sie nicht verstehen, nur weil wir sie gerne anders hätten, so, wie es uns paßt. Denke nur, Kind: die Welt ist so groß, und wir Menschen sind so klein. Da kann sich doch nicht alles um uns allein drehen. Was uns schadet, was uns weh tut? Wer kann wissen, ob das nicht notwendig ist zum Wohl und Nutzen der ganzen Schöpfung? Wir müssen von dem, was wir als schön und gut erkennen, einen Schluß auf alles andere ziehen und sagen: In jedem Ding der Welt, ob es tot ist oder atmet, lebt der große, weise Wille des Schöpfers. Uns kleinen Menschen fehlt nur der Verstand, um diesen Willen zu begreifen. Wie alles ist in der Welt, so muß es sein. Und wie es auch immer sein mag, immer ist es gut im Sinne des Schöpfers.«
»Aber dann müßte man doch immer mit allem zufrieden sein? Und eigentlich hätte dann auch kein Mensch ein Recht, daß er sich beklagt?«
»Dieses Recht, Kind, hat jeder Schwache, der nicht die Kraft besitzt, seinen Schaden zu verschmerzen und das Unabänderliche zu tragen.«
»Wenn man aber die Kraft nicht hat? Kann man das lernen, Lo?«
»Ja!