Nur keine Panik. Wolfram Pirchner
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Ich erinnere mich, dass ich mit meiner damaligen Freundin im Theater war. Einige Reihen vor uns saß der damalige Vizekanzler Alois Mock. Zitternd. Parkinson. Ich fixiere Mock, er tut mir leid, ich beginne auch zu zittern. Mir wird noch übler. Ich beginne zu schwitzen und habe das Gefühl, dass mich alle im Theater anstarren. Mich, den Fernsehkasperl, schwitzend, auf dem Sessel hin und her wetzend, schwindlig. Der Schweiß tropft von meiner Stirn, die Haare scheinen klatschnass zu sein, der Hemdkragen muss schon völlig durchnässt sein. Ich trau mich nicht, mir die Stirn abzuwischen, wie auch, ich habe kein Taschentuch bei mir. Verdammt. Schaut mich wer an? Merkt irgendjemand, was mit mir los ist? Ich frage mich oft: Was ist mit dir los? Endlich die Pause. Wie oft habe ich Theater, Konzerte in der Pause verlassen. Weg von hier, bloß raus. Warum tue ich mir das an? Sofort ins AKH!
AKH
Auf ins AKH, gleich geht es mir besser. Meine Rettung. Mein Zufluchtsort. Mein AKH. Vermutlich werden sie etwas Schlimmes finden. Notaufnahme. »Herr Pircher, ich freue mich, dass ich Sie einmal in Natura sehe«, sagt die liebe Frau in der Aufnahme, der ich als Erstes in die Hände falle. Ich heiße übrigens immer Pircher. Auch heute noch. Für alle. Nur nicht für meine Familie. Steht übrigens auch in meiner Taufurkunde falsch. Naja, egal. Sind beides keine Künstlernamen, weder mit »n« noch ohne. »Ich bin der Patient.« – »Was? Na kommen S’ her.« Bin eh schon da … »Mir ist schlecht, ich schwitze, der Kreislauf, Krebs, Hirntumor, Aids, was weiß ich.« Ich werde aufgerufen – durch den Lautsprecher. Es sind noch andere Patienten da, die mit stierem Blick vor sich hinstarren. Keiner beachtet den anderen. Laut, beinahe überlaut werde ich aufgerufen. »Dr. Pirchner in den Behandlungsraum A.« Ich gehe dorthin, was heißt, ich gehe – ich schlurfe, versuche dem Oberarzt zu erklären, dass ich kein Doktor bin, sondern, wenn es denn wichtig sei, lediglich Magister. Ein Schmalspurakademiker sozusagen. Die Schwester knurrt grantig: »Das steht hier, dass Sie Doktor sind, und dann ist das auch so.« – »Ich bin kein Doktor.« Sinnlos. Heute noch, wenn ich wegen irgendwas im AKH bin, höre ich: »Dr. Pirchner bitte dorthin, Dr. Pirchner bitte dahin, Dr. Pirchner egal wohin.« Ich habe diesbezüglich resigniert, es amüsiert mich und vielleicht wurde ich ja im AKH promoviert und habe es nicht mitbekommen. Kann ja sein, wenn man verrückt ist. Ver-rückt meine ich. Dazu aber später … Nur eines noch: Ver-rückt bleibt und ist man sein Leben lang. Gott sei Dank. Ein wenig aus der Mitte. Oft höre ich, wie erstrebenswert es doch sei, »mittig« zu sein, »die Mitte zu finden«, »finde doch zu dir!« Was? Mittig??? Das ist doch fad und langweilig. Mittig? Die Amplituden zwischen Höhepunkten und Tiefpunkten abfedern, das hat mir sehr geholfen. Nicht himmelhoch jauchzend, wenn es einmal optimal läuft – privat, beruflich, finanziell, sozial etc. –, und auch nicht zu Tode betrübt, wenn es hakt. Egal wo und in welchem Bereich. Mittig? Die Flatline bedeutet in der Medizin, dass es aus ist. Exodus. Aber mittig. Genau in der Mitte. Ins Herz.
Ver-rückt bleibt und ist man sein Leben lang.
Blutabnahme, EKG. Warten auf den Befund. Leider ist alles in Ordnung. Wirklich und gefühlt »leider«. Du wirst das vermutlich (noch) nicht verstehen, ich gebe zu, es mutet sonderbar an, aber ich hätte schon ganz gerne gehabt, dass sie – die Ärzte – etwas gefunden hätten. Zum Beispiel: »Ihre Halsschlagader ist verengt, verkalkt. Sie müssen sofort etwas unternehmen. Sie brauchen einen Stent! Jetzt!« Ich wollte hören: »Sie haben sich durch jahrelanges Rauchen und Trinken geschädigt. Sie haben sehr schlechte Cholesterinwerte. Es besteht dringender Handlungsbedarf.« Die schlechten Cholesterinwerte hatte ich schon bei meiner ersten diesbezüglichen Untersuchung mit 19 Jahren. Beim Bundesheer wurden wir ja zwangsblutgetestet. Cholesterinwerte? Entsetzlich. Genetisch bedingt. Vererbt. Anlage. »Nein – Sie haben nichts. Es geht Ihnen gut. Jaja, die LDL-Werte sind erhöht, auch die Triglyceride, aber sonst: gesund und munter.« – »Nein, ich bin nicht munter. Mir ist schlecht.« – »Guat schaun S’ aus, wia im Fernsehen. Und so schlank (damals). Im Fernsehen san S’ vü blader.« Das brauche ich jetzt noch. Gut. Danke und auf Wiedersehen. Ab nach Hause.
Zuhause war die Welt in (Un)Ordnung
Wenn ich eine Veränderung will, dann tut das weh.
Herr »Pircher« ist zu Hause. Schwindel beim ORF, Schweißausbrüche im Kino und Theater, nur zu Hause war die Welt noch in Ordnung. Noch. Bis zu dem Tag, besser gesagt bis zu jener Nacht, in der ich um 2 Uhr aufwache und einen Puls von 200 habe. Das weiß ich, weil ich damals ein Pulsmessgerät hatte und sofort gemessen habe. Was in der Panik schwerfiel. Zittrige Hände, fahriges, nervöses Herumgeschussle – endlich der Wert. 200. Na bravo. Ich habe dieses Gerät übrigens später im Sondermüll entsorgt. Ich messe nicht mehr. Ich messe nichts mehr. Ich hasse es zu messen. Weder Gewicht, noch Puls, noch Blutdruck. ICH mach das nicht mehr. Weil es mich verunsichert, mich frustriert und ärgert. Vor allem das Wiegen. Wozu soll ich mich wiegen, wenn ich eh weiß, dass ich zu fett bin. Ein Negativerlebnis jagt das nächste. Und in diesem Fall selbst verschuldet. Wenn Sie glauben, zu dick zu sein, oder es tatsächlich sind, dann wiegen Sie sich bitte nicht mehr. »Ich habe seit gestern 3 Kilogramm abgenommen«, erzählt mir die liebenswerte Kollegin jeden Monat. »Ja, gratuliere! Du hast maximal 3 Liter weniger Flüssigkeit«, möchte ich ihr sagen. Natürlich tu ich es nicht. Um abzunehmen, musst du Fett verlieren. Und 3 kg Fett verbrennst du nicht an einem Tag, auch wenn du ein Fatburning-Training machst, das sich gewaschen hat. Eines, dass dich vermutlich mit einem Kreislaufkollaps ins nächste Krankenhaus katapultieren würde. Langsam, gemach, wenn man das tatsächlich will. Wollen im Sinne von: »Ich mach das jetzt, auch wenn ich weiß, dass es schwer ist.« Wenn ich eine Veränderung will, dann tut das weh. Dann schmerzt das. Dann ist das mit Entbehrungen, mit Überwinden, mit Änderung der Lebensgewohnheiten unmittelbar und eng verbunden. Veränderungen im Essverhalten, im Bewegungsverhalten, in der eigenen Einstellung. Ich musste und muss den Verführungen den ganzen Tag widerstehen, den angebotenen Kekserln, Zuckerln, Desserts, Kuchen und all den süßen Grässlichkeiten, mit denen mich meine wohlmeinenden Mitmenschen stopfen wollen. Beobachte einmal: Meistens sind es dicke Menschen oder solche, die zur Fettleibigkeit neigen, welche dir Süßes anbieten. Warum machen sie das? Überlege. Richtig! Sie machen das, um von ihren eigenen Fettschwarten abzulenken, damit auch du zum Kreis der Erlauchten gehörst. Zu jenen, deren Cholesterinwerte sich in schwindelnde Höhen schrauben, deren Triglyceridwerte katastrophal sind und deren Aorten sich dem Zustand der starken Verkalkung nähern. Es ist verdammt schwer, NEIN zu sagen. Es ist extrem belastend, in der ersten Zeit der – jetzt hätte ich bald Askese geschrieben – von Askese sind wir weit entfernt … also, es ist sehr schwer, Nein zu sagen, die Angebote freundlich abzuweisen – ohne Begründung. Insbesondere in der ersten Zeit des Verzichts, der Veränderung, des geänderten Wollens. Du kannst aber deinen Mitmenschen auch ohne Weiteres sagen: Schluss! Ich bin zu fett und ändere das ab jetzt! Nein, das musst du nicht.
Ich stand mit meinem Sohn vor einigen Jahren vor einem Eisstand in der Shopping City Süd, um ihm ein Stanitzel zu kaufen. Der Verkäufer erkannte mich: »Grüß Sie, Herr Pircher. Wollen S’ auch ein Eis?« – »Danke, ich esse nichts Süßes.« – »Aber gengan S’ – ein Eis für Sie, lieber Herr Pircher. Ich seh Sie so gern im Fernsehen! Welche Sorte darf’s denn sein?« – »Danke vielmals, aber ich esse keine Süßigkeiten!« Und meine Stimme wurde energischer. Viele Menschen stehen um den Eismann und seinen Stand herum, starren mich an, anstatt sich an dem dargebotenen gefärbten Eisgatsch zu erfreuen und sich von ihm locken zu lassen. Und der Eismann setzt noch einen drauf: »Ich lad Sie ein, Herr Pircher.« So, jetzt hab ich verloren. Es reicht. Die rettende Idee: Ich pirsche mich mit überfreundlicher Miene, verschwörerisch lächelnd an den lästigen Eismann heran, spitze meine Lippen und nähere