Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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»Nein, ich werde das nicht sehen, ich komme nicht mit, die Mutter will nicht, dass wir mit dieser Spukgeschichte etwas zu tun haben, du weisst es wohl, Kurt. Dort kommt Elvira, die muss ich grüssen.« Mit diesen Worten stürzte Mea plötzlich den Berg hinunter. Von unten kam die Genannte, ein Mädchen von Meas Alter, mit langsamen Schritten herangestiegen. Ob dieser gemessene Gang eine besondere Naturanlage war, oder ob es so sein musste, um die schönen roten und blauen Blumen auf dem Hütchen zu schonen, die gewiss keine starke Erschütterung ertragen konnte, war nicht zu ersehen; aber das war ganz ersichtlich, dass die Herankommende ihn nicht zu ändern im Sinne hatte. Längst musste sie die entgegeneilende Freundin bemerkt haben, beschleunigte aber deswegen ihren Schritt auch gar kein bisschen.
»Die könnte ihre gnädigen Hochmutsstelzen auch ein wenig schneller in Bewegung setzten, wenn sie doch sieht, wie Mea ihr entgegenläuft«, sagte Kurt grimmig. »Mea brauchte das auch gar nicht zu tun; aber auf diese Elvira will ich einmal ein Lied machen, dass sie daran denkt.« Jetzt lief auch Kurt davon, aber nach der anderen Seite hin, dem Garten zu, wo er seine Mutter erblickt hatte. Sie stand vor ihrem Rosenbäumchen und warf von Zeit zu Zeit welke Blüten und Zweige zur Seite. Die Mutter so allein und ruhig an einer Arbeit zu finden, die ihre Gedanken nicht in Anspruch nahm, war gerade, was Kurt sich so häufig erwünschte und selten erreichte; denn wollte er einmal seine besonderen Anliegen recht gründlich und ungestört mit der Mutter besprechen, so konnte er sicher sein, dass die beiden jüngeren Geschwister gerade jetzt mit ihren vielfältigen Angelegenheiten auf die Mutter eindrangen, oder die beiden älteren durchaus einen besonderen Rat von ihr bedurften. So stürzte Kurt dem Garten zu, um die ungewohnt günstige Gelegenheit vollauf zu benutzen. Aber auch heute sollte er seinen Zweck nicht erreichen. Noch bevor er bei der Mutter ankam, war von der anderen Seite her eine Frau an sie herangetreten, die gleich ein eifriges Gespräch mit der Mutter begonnen hatte. Jeder andere, der ihm diese Störung bereitet hätte, würde Kurts Zorn auf sich geladen haben; aber die Frau Apollonie, die da stand, war seine alte und besondere Freundin und hatte überdies den grossen Vorzug in seinen Augen, mit dem alten Wächter auf dem Schlosse bekannt zu sein. So konnte man immer hoffen , von ihr allerlei von den Dingen zu vernehmen, die da droben vorgingen. Zu seiner Befriedigung hörte er auch, als er eben herzutrat, die Frau Apollonie sagen: »Nein, nein, Frau Pfarrer, der alte Trius macht kein Fenster umsonst auf; seit bald zwanzig Jahren hat er kein einziges aufgemacht.«
»Um so eher kann er doch einmal den alten Staub auswischen wollen, nötig wäre es ja«, entgegnete Kurts Mutter; »an die Heimkehr seines Herrn glaube ich nicht.«
»Warum wären denn nur die Turmfenster geöffnet, wo der Herr immer hauste? Da geht etwas vor sich«, sagte Frau Apollonie bedeutungsvoll.
»Vielleicht hat der Geist von Wildenstein sie aufgestossen«, warf Kurt schnell dazwischen.
»Aber Kurt, kannst du denn nicht aufhören, immer wieder von dieser Geschichte zu sprechen, die durchaus eine Erfindung der Leute ist, die an einem Unglück nie genug haben, sondern immer noch etwas besonders Schreckliches dazu erdichten müssen«, sagte die Mutter lebhaft. »Du weisst, dass mir dieses Gerede sehr leid tut, du solltest nichts damit zu tun haben wollen, Kurt.«
»Aber Mutter, ich will dich ja nur unterstützen, ich möchte dir nur helfen, diesen Aberglauben auszurotten«, versicherte Kurt, »ich will einmal den Leuten beweisen, dass es keinen Geist von Wildenstein gibt.«
»Ja, ja, wenn man nur nicht wüsste, wie die Brüder -«
»Nein, Apollonie«, unterbrach sie die Frau Pfarrer, »Sie sollten am allerwenigsten den Glauben an diese erfundenen Erscheinungen unterstützen. Jedermann weiss, dass Sie mehr als zwanzig Jahre lang auf dem Schlosse lebten, und denkt daher, Sie müssten wissen, was da vorgeht, und Sie wissen ja doch, dass das ganze Gerede keinen Grund hat.«
Frau Apollonie zuckte nur leise mit den Achseln; aber sie sagte nichts mehr.
»Aber Mutter, woher kann denn nur ein solches Gerede kommen, wenn es doch keinen Grund hat?« fragte Kurt, dem die Sache offenbar keine Ruhe liess.
»Einen wirklichen Grund für das Gerede gibt es nicht«, entgegnete die Mutter, »keiner von allen denen, die davon erzählen, hat je mit eigenen Augen etwas von der Erscheinung erblickt. Immer sind es andere, die davon berichtet haben, und denen war es wieder von anderen mitgeteilt worden, dass etwas Unbegreifliches auf dem Schloss gesehen worden war. Zuerst hat das Gerede sich an ein sehr trauriges Ereignis angeheftet, das sich vor langer Zeit auf dem Schlosse zugetragen hat, und aufs neue hat es Stoff gefunden, als man später glaubte, ein ähnlicher Vorfall habe sich ereignet, was durchaus unrichtig war. Da wurden alle alten Geschichten wieder hervorgezogen, und das Gerede wurde lebendiger als je. Die Leute, die es besser wissen, sollten aber recht dagegen auftreten, dass es nicht immer weiter geht.«
»Was war denn vor langer Zeit und dann nachher noch einmal auf dem Schlosse so Trauriges geschehen?« forschte Kurt weiter.
»Nein, nun ist keine Zeit zum Erzählen, Kurt«, sagte die Mutter bestimmt, »du hast deine Schularbeiten zu machen und ich habe andere Geschäfte. Wenn ich euch einmal alle ruhig beisammen habe, erzähle ich euch von den vergangenen Zeiten. Es ist besser, als dass ihr nach allen Gerüchten forscht, die hier herumgeboten werden. Du bist darin besonders rührig, Kurt; es ist mir aber gar nicht lieb, und ich hoffe, du lässt die Sache in Ruhe, wenn du verstanden hast, wie grundlos das Gerede ist. Nun kommen Sie, Apollonie, dass ich Ihnen die gewünschten Schösslinge gebe. Mich freut es, von meinen Geranien zu Ihnen zu verpflanzen; Ihr kleiner Blumengarten ist immer in solcher Ordnung gehalten, dass es jeden freuen muss, ihn anzusehen.«
Apollonie hatte während der vorhergehenden Reden der Frau Pfarrer ihr Gesicht öfters in einer Weise verzogen, die keine Übereinstimmung bedeutete; aber sie hatte zuviel Achtung vor der Frau, um ihre Zweifel auszusprechen. Jetzt breitete sich ein heller Sonnenschein über ihr Gesicht; denn ihr Blumengärtchen war ihr Stolz und ihre Freude. »Ja, ja, Frau Pfarrer, Blumenpflegen ist eine schöne Sache«, sagte sie kopfnickend; »die tun auch, wie es sein muss, und will mir eine zu weit auf die Seite, so steck ich ihr ein Stecklein auf, dann wächst sie wieder geradeaus, wie es recht ist. Ja, wenn das Kind so wäre. Ich meine, ich hätte keine Sorge mehr; aber das hat immer seine eigenen Wege im Sinn, und Mücken hat’s im Kopf, es weiss kein Mensch, woher sie es nimmt.«
»Dass es seine eigenen Gedanken hat, ist ja nichts so Schlimmes«, entgegnete die Frau Pfarrer, »es kommt nur darauf an, wie sie sind. Loneli scheint mir aber ein gut geartetes Kind zu sein, das sich leiten lässt, und geleitet zu werden haben sie ja auch alle nötig. Was sollte denn Loneli für besondere Mücken haben?«
»Ja, sehen sie, Frau Pfarrer, was mir das Kind einmal anstellen kann, das weiss kein Mensch«, eiferte die Apollonie. »Kommt es nicht gestern aus der Schule heim und sagt: ‘Grossmutter’ - und macht ganz feurige Augen dazu - , ‘Grossmutter, ich möchte einmal nach Spanien gehen, da wachsen so schöne Blumen von allen Farben, und grosse, funkelnde Weintrauben, und die Sonne scheint so hell auf die Blumen, dass alle leuchten. Ich möchte nur gleich dahin gehen’. Jetzt denken Sie, so etwas von einem zehnjährigen Kind! Was hat man da nur weiter zu erwarten?«
»Das ist eigentlich nichts so Erschreckliches, Apollonie«, sagte die Frau Pfarrer lächelnd. »Sollte das Kind nicht vielleicht zuerst von Ihnen selbst das Land Spanien nennen gehört haben, und in einer Weise, die seine Einbildungskraft schon in Tätigkeit gesetzt hat? Dann wird es ja in der Schule auch von dem Land gehört