Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 86
Das war der mit Zittern und Zagen lange erwartete Brief. Hedwig schaute auf Alice. Noch saß diese unbeweglich, ihr Gesicht in die Hände legend. Hedwig trat zu ihr heran, und, ihren Arm um Alicens Hals legend, sagte sie mit frohlockendem Herzen:
»Wenn die Stunden
Sich gefunden,
Bricht die Hilf' mit Macht herein.
Und dein Grämen
Zu beschämen,
Wird es unversehens sein,«
Alice war so ergriffen, daß sie nicht sprechen konnte. Sie saß schweigend neben Hedwig, deren Hand fest in der ihrigen haltend; ein Ausdruck unaussprechlichen Dankes lag auf ihrem Gesichte. Dann ging sie auf ihr Zimmer, es verlangte sie danach, allein zu sein. Sie mußte wohl ihr volles Herz vor dem ausschütten, der die schwere Last von ihr genommen und ihr Herz wieder fröhlich gemacht hatte.
Gegen Abend, als der wolkenlose Himmel über den Gebirgen golden zu leuchten begann, traten die Freundinnen aus der Türe. Hedwig hatte Alice den Geburtstag in Erinnerung gebracht, den sie auf der Bank des Barons mitzufeiern versprochen hatte. Alice war schnell bereit, ihr Versprechen zu lösen. Eilig gingen die beiden dem Nebenhügel zu. Schon kündeten die Purpurstreifen an den Felsen droben das Glühen der untergehenden Sonne an. Dort stand auch schon der Baron, an den Baum gelehnt, in dessen Schatten die Bank sich barg.
»Endlich«, rief er aus, sobald er die beiden gewahr werden konnte. Er lief ihnen entgegen, den Hügel hinunter, um sie im Triumph auf seinen auserwählten Sitz zu führen. Alice brachte ihre Glückwünsche zum Feste mit der gewinnendsten Freundlichkeit dar.
»Und die Pfeffernüsse, Herr Baron?« fügte sie bei, »sind sie richtig eingetroffen, so daß die echten Festgedanken sich entfalten können?«
»Gewiß, gewiß«, erwiderte er lebhaft, schaute aber mit großen, erstaunten Augen auf Alice. Es war das erste Scherzwort, das er aus diesem Munde vernahm. Es gibt Zustände, da die leiseste Veränderung des Tones empfunden wird; der Baron empfand sie sichtlich.
Die drei waren nun bei der Bank angelangt. Die Damen setzten sich hin, der Baron lehnte sich an den Baumstamm. Die Sonne war eben im Scheiden. Südlich warm erglänzte der Himmel gegen Italien hin. Die Felsenzacken ringsum standen rotglühend auf dem wolkenreinen Horizont. Über die Kastanienwälder schimmerte weithin der goldene Abendschein, bis hinauf zum grauen Turme, um den es leuchtend aufzuckte, wie Erinnerungen alter Herrlichkeit, und majestätisch schauten über Fels und Wald und das weite Tal hinab die flammenden Gletscher der fernen Montblanc-Kette.
Schweigend hatten alle drei in den Abend hinausgeschaut. Jetzt rief Alice plötzlich mit einer Summe, die wie die helle Freude klang:
»Daß diese Erde so schön sein kann, das wußte ich nicht bis zu diesem Abend, und daß ich noch heute diese Schönheit gesehen habe, das danke ich Ihnen, Herr Baron. In meinem Leben werde ich diesen Geburtstag nicht vergessen.«
Der Strahl, der jetzt aus diesen Augen leuchtete, mochte dem Baron seinen Wunsch in Erinnerung bringen; das wachsende Erstaunen auf seinem Gesichte zeigte, wie wenig er erwartet hatte, ihn so bald in Erfüllung gehen zu sehen.
»Diese Bank wirkt Wunder!« war der Ausspruch, mit dem er seinem Erstaunen Luft machte. »Hier müssen wir mehr Feste feiern! Den ganzen Monat November machen wir zu einem ununterbrochenen Festtag.«
»Da werden die Gäste Platz auf der Bank haben«, meinte Hedwig. »Wir beide bleiben übrig, Herr Baron. Wenn wir Fräulein Alice noch drei Tage behalten, so ist es alles.«
Einen Augenblick sah der Baron aus, als wäre er vom Schlage getroffen. Er wollte etwas sagen, aber es war, als müsse er seine Stimme erst weit heraufholen.
»Sie denken doch an kein Fortgehen«, sagte er jetzt, zu Alice gewandt.
»Von heute an kann mir jeder Tag ein Telegramm bringen, das mich sofort zum Aufbruch ruft«, erwiderte sie. »Ich gehe nicht gern jetzt und so plötzlich von hier fort. Nur die Ankunft von Vater und Schwester versöhnt mich mit dem Gedanken, und die Hoffnung, die Freunde, die ich hier gefunden, wiederzusehen.«
Der Baron blieb stumm an seinen Baum gelehnt. Auch die Freundinnen schauten schweigend, wie über den Felsenhöhen Stern um Stern erglomm und die erbleichten Gletscher nach und nach im Horizont verschwammen. Der Abendwind wehte kühl über den Hügel hin. Die Festfeiernden standen auf von der Bank, um die für alle drei ein Hauch unvergeßlicher Herrlichkeit wehte. Sie sollten sich nicht wieder da zusammenfinden.
Alice wünschte noch einmal die Mutter des lahmen Kindes zu sehen. Die Freundinnen gingen am folgenden Abend dahin, sie wußten, daß nur um diese Zeit die Frau zu finden war. Sie kam ihnen entgegen. Hedwig ließ die beiden allein und ging dem Hause zu. Das Kind saß nicht mehr unter dem Kirschbaum, die Abende waren zu kühl geworden; über die Mittagsstunden hätte es wohl noch draußen sitzen dürfen, aber da war niemand, es hin und her zu tragen.
Hedwig trat in das Haus ein. Da saß Juliette in ihrer Ecke in der niedrigen Stube, um sie herum lagen ihre Güter. Mit besonderer Freude hatte sie sich nun auf die Bilderbücher mit den Erzählungen geworfen. Ein junges Mädchen vom Orte hatte angefangen, sie lesen zu lehren. Nun war ein ganzer Eifer dafür in ihr erwacht. Diesmal habe sie auch gar nicht weinen müssen, wie sonst, erzählte Juliette, wenn sie nicht mehr hinaus konnte, nun sei es so anders in der Stube. Sonst habe sie immer denken müssen, sie könne es nicht erleben, daß der Winter ein Ende nehme, und nun habe sie so viel zu tun; bis der Frühling käme, würde sie nicht einmal fertig, alle Bilder recht zu kennen, und dann erst noch alle Geschichten! Noch einmal mußte Hedwig sie alle ansehen und raten, was zuerst sollte gelesen werden, und einstimmen in des Kindes unermüdliches Ergötzen.
Jetzt traten Alice und die Mutter herein. Diese hatte geweint, aber sie schien wohlgemut zu sein und sprach gleich mit warmen Worten von der Erleichterung, die ihr durch die unbegreifliche Wohltat an dem Kinde für den Winter geworden sei.
Als Hedwig der Frau die Hand zum Abschied reichte, sagte diese auf Alice blickend: »Es weiß doch kein Mensch, der's nicht erfahren hat, wie wohl es einem armen Geschöpfe tut, wenn eine freundliche Menschenseele, die weiß, was Kummer und Angst ist, so tröstliche Worte zu ihm redet.« –
Am Tage darauf kam für Alice der Ruf zur Abreise. Sie hatte sich auf den folgenden Tag bereit zu machen und auf der Station mit den Ihrigen zusammenzutreffen, um das Rhonetal hinauf dem Simplon zuzueilen, der noch in diesen milden Tagen passiert werden sollte.
Am leicht bewölkten Morgen zogen einmal noch die drei, die so oft diese Wege zusammen durchwandert hatten, dem Stationsgebäude zu. Dort rannte eine Menge von Passagieren durcheinander, man wußte nicht recht, wo sich hinstellen. Der Baron bemühte sich