Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 84
Mich überfiel ein unaussprechlich marterndes Gefühl, das ich nie gekannt hatte, das mir alle Ruhe raubte und mich Tag und Nacht verfolgte. Alle Lust zum Fortgehen war mir völlig verschwunden, ich hatte keinen anderen Gedanken, keinen Wunsch mehr, als nur das eine, daß alles noch wäre, wie es einmal war, und doch wußte ich, es war für immer vorüber.
In jenen Tagen kam ein junger englischer Offizier in unser Haus, dessen Vater ein alter Bekannter unserer Familie war. Der junge Mann hatte auf seiner Rückreise nach Indien, wo er im Dienste stand, noch einige Freunde seines Hauses aufgesucht, die in der Nähe verweilten. Er warb um Lucy. Wir kannten ihn nur wenig; ich war nicht für ihn eingenommen; es lag etwas Wildes in seinem Blick, und in seinem ganzen Wesen hatte er etwas Gewalttätiges. Der Vater war nicht gegen die Verbindung, er ließ meine Schwester ganz frei entscheiden. Lucy wandte sich an mich, wie mit allen ihren Angelegenheiten, denn sie war wie Wachs in meiner Hand. Ich stieß sie in die Verbindung hinein. Sobald sie verlobt war, erkannte ich, daß Lucy entschieden dem Unglück entgegengehe; ich hatte sie dahin gebracht und ich wußte, warum. Nicht aus irregeleitetem Interesse für sie hatte ich es getan, das wäre zu verzeihen gewesen, nein, ich hatte sie geopfert aus brennender Eifersucht. Der Verlobte zeigte sich als ein innerlich roher, gewalttätiger Mensch. Lucy verlor täglich mehr ihre kindliche Fröhlichkeit; sie wurde still und sah abgehärmt aus; sie war nicht mehr dieselbe. Ich habe keine frohe Stunde mehr gehabt seither.«
»Ist sie denn schon verheiratet, ist denn kein Zurückgehen mehr möglich?« fragte Hedwig, als Alice innehielt.
»O, daran ist gar nicht zu denken«, entgegnete diese mit abschließender Bestimmtheit. »Mein Vater hat Lucy vollkommen freie Wahl gelassen; nun sie aber ihr Wort gegeben hat, würde er ihr nie gestatten, es wieder zu brechen. Meine Schwester denkt auch nicht daran. Sie nimmt ihr Los an, wie es gefallen ist, hält still und geht nun mit diesem Menschen fort nach dem fernen Indien, allein mit diesem Menschen. Sie wird es nicht lange aushalten, und ich habe alles getan, ich habe ihr junges Leben gemordet. Wie die Hochzeit nahte, die um seines Dienstantritts willen bald sein sollte, konnte ich meine Angst und Qual nicht mehr bemeistern. ich kam in einen solchen Zustand der Aufregung, daß ich Tag und Nacht ruhelos umherlief und kein Schlaf mehr in meine Augen kam, wie matt und entkräftet ich mich auch fühlen mochte. Ich weiß, was das heißt, was irgendwo gesagt ist von einem unauslöschlichen Feuer und einem ewig nagenden Wurm. So ist es in meinem Herzen. Der Arzt verordnete, ich sollte in andere Luft kommen, er schickte mich hierher. Ich ging gern, ich hoffte fern von allem die Sache ruhiger ansehen zu können, meiner Qual los zu werden; aber sie ist mit mir da. Täglich, stündlich erwarte ich den Brief, der mir die Anzeige von der Hochzeit und der Abreise meiner Schwester bringt, die ich nicht mehr sehen werde und die ich ins Elend hinausgestoßen habe.«
Alice legte ihren Kopf auf Hedwigs Schulter und schluchzte laut. Es war unterdessen spät geworden, eben hatte die alte Turmuhr drüben eins geschlagen. Hedwig stand auf. Sie nahm Alice bei der Hand und führte sie nach dem Nebengebäude hinüber in ihr Zimmer.
»Tun Sie mir eines zuliebe, Fräulein Alice«, sagte sie mit dem Ton bekümmerter Teilnahme, »bleiben Sie nicht mehr hier sitzen, grübelnd und wachend in die Nacht hinein, immer und immer wieder sich dasselbe vorhaltend; es macht die Sache nicht ungeschehen und führt Sie zu keinem Frieden. Werfen Sie sich auf ihre Kniee und rufen Sie den an, der allein Ihnen helfen kann.« –
Von diesem Abend an waren Hedwig und Alice unzertrennlich beisammen. Am Tage zogen sie durch die stillen Waldwege und zu der einsamen Bank hinauf. Da saßen sie viele Stunden lang, die dunkeln Wipfel des Kastanienwaldes zu ihren Füßen, die felsigen Savoyergebirge vor ihnen emporragend. Ihr Gespräch bewegte sich fortwährend um denselben Gegenstand. Nun Alice einmal ihr Herz aufgeschlossen hatte, war es ihr nicht mehr peinlich; im Gegenteil, sie fand eine Erleichterung darin, sich immer voller auszusprechen, sich immer neu, immer schärfer anzuklagen. Sie fand auch das tiefste Mitgefühl bei ihrer Gefährtin. Hedwig hatte sie so auf ihr Herz genommen, daß Alicens Leiden ihr eigenes geworden war. Sie rang und flehte für die Gequälte manche bange Stunde der Nacht durch, denn immer wieder sah sie das kleine Licht drüben schimmern und wußte, daß die Arme ruhelos ihrer bitteren Reue, ihren brennenden Vorwürfen hingegeben war.
Auf ihren Gängen am sonnigen Tage konnte Alice zuweilen dazu kommen, einen Blick um sich zu tun. Sehr oft trafen die Wandernden mit dem Baron zusammen, der sich gern ihnen anschloß und manchen schönen Herbstnachmittag mit ihnen durch die Wälder streifte und über die sonnige Höhe heimkehrte. In seiner Gesellschaft schien Alice für Augenblicke ihren nagenden Wurm vergessen zu können. Seine unverwüstliche Fröhlichkeit ergoß sich über alles, das ihm nahe kam, und seine helle Freude auf jedem Schritt, über die Blumen am Wege und die Vögel auf den Zweigen, über die hochroten Äpfel am Baum, über Himmel und Erde und vor allem über den goldenen Sonnenschein darauf, war völlig ansteckend. Für Alice war der Baron von der zartesten Aufmerksamkeit und in ihrer Nähe immer so maßvoll in den Ausbrüchen seines Frohsinns, als wüßte er genau, wie viel und wie wenig davon ein trauriges Herz erträgt. Ihm allein gelang es denn auch zuweilen, die Schatten von ihrer Stirne zu verscheuchen und einen leisen Sonnenblick hervorzurufen. Aber es war alles nur ein kurzes Selbstvergessen. Kamen die stillen Abendstunden, welche die Freundinnen jetzt immer auf Hedwigs Zimmer zubrachten, so stieg mit der alten Macht das Weh ihres Herzens und die unnennbare Qual ihres Gewissens auf.
»Ach, ich bete jetzt wirklich«, antwortete sie eines Abends auf Hedwigs wiederholte Erinnerung, »ich bete so anders, als ich es je vorher in meinem Leben getan habe. Früher war mein Gebet gerade so, als ob ich noch schnell dem lieben Gott gute Nacht wünschte; aber seit ich in der brennenden Qual liege, weiß ich, was es heißt, aus tiefer Not zu ihm zu schreien. Ich sage ihm auch wahrhaftig, daß ich ja gern alles, alles daran geben will; ich will ja auch nie mehr den Menschen sehen, an dem mein Herz viel heißer hängt, als ich je wußte, da ich noch mit ihm zusammen war; ich will ja keinen glücklichen Tag mehr für mich, nur daß mich der liebe Gott von meiner Qual erlöse und das arme Kind aus den Banden befreie, in die ich es geworfen habe.«
»Es ist gewiß recht, Alice«, sagte Hedwig, »daß Sie all' Ihre Wünsche, Ihr ganzes Erdenleben opfern wollen, um gut zu machen, was Sie verbrochen haben, und daß Sie darum beten, daß alle Strafe auf Sie falle und die arme Schwester vor großem Leid bewahrt bleibe. Aber ich glaube, Sie kommen zu keiner Ruhe, solange Sie mit Ihrem Gebet von Gott fast erzwingen wollen, daß er nicht geschehen lasse, was Sie angebahnt haben. Er hat seine eigenen Wege mit den Menschen; was wir Übeles tun, kann in seiner Hand zum Guten gewandt werden, aber auf andere Weise, als wir erwarten. Beten Sie um die volle Hingebung an seinen Willen; nur so können Sie zum Frieden kommen und es hinnehmen, ohne zu verzweifeln, wenn nun erfüllt sein muß, was Sie begonnen haben.«
»Ich kann nicht, ich kann nicht«, jammerte die Gequälte. »Es kann nicht geschehen, es ist schrecklich, was ich begonnen habe, es ist zu schrecklich.«
»So peinigen Sie sich fort und fort, Ihr Gebet bringt Ihnen keinen Segen und in Ihren Anklagen können Sie sich bis zum Irrsinn steigern.«
»Das ist wahr«, warf Alice sogleich ein, »das fühle ich und sagte ich mir