Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 87
Hoch aufgerichtet stand der Mann oben und schaute mit vollkommener Ruhe auf die hastig suchende, schreiende, hin und her rennende Schar der Mitreisenden nieder. Er sah ganz aus wie einer, den nichts so leicht erregt, der aber, einmal in Aufregung gebracht, die ganze Welt zur Türe hinauszuwerfen im Stande wäre.
Aus dem Fenster schaute ein junger Mädchenkopf, rings herum suchend, mit sichtlichen Zeichen großer Ungeduld. Jetzt trat Alice heraus, gefolgt von dem schirm- und schalbeladenen Baron. Der Mädchenkopf am Fenster tat einen Freudenruf. Alice sprang auf die Stufen und verschwand mit ihrem Vater im Wagen. Aber noch einmal kam sie heraus, noch einmal wurden die Hände gedrückt zum Abschied. Dann schauten noch einmal ihre sprechenden Augen nach den Freunden aus, und nun rauschte der Zug dahin und verschwand im grauen Felsental.
Schweigend gingen der Baron und Hedwig den Weg hinein zum Pensionshause zurück, wo sie sich trennten. Warum weder das eine noch das andere ein Wort sprechen konnte, das wußte eines so gut wie das andere. Am Abend trafen sie auf der steilen Strecke am Hügelwege wieder zusammen. Sie hatten nichts verabredet, aber es kam beiden vor, als könnte es nicht anders sein, als daß sie dort hinauf gehen müßten. Bei der Bank angekommen, warf der Baron sich auf den Boden nieder, Hedwig setzte sich an die bekannte Stelle. Eine lange Weile verging, es sagte keines ein Wort. Endlich brach der Baron los:
»Hier halt' ich's nicht mehr aus; es ist geradezu, als sei die Erde ringsum wüst und leer geworden und alles vorbei.«
»Mir ist nicht viel anders als Ihnen«, sagte Hedwig; »ich kann es auch kaum ertragen, daß alles vorbei ist.«
Nun schütteten die beiden einander ihr Leid aus, es tat ihnen wohl, auszusprechen, wie weh jedem zu Mute war. Dann folgte wieder ein langes, lautloses Schweigen. Welch' reiche, schmerzliche und liebliche Erinnerungen umwehten all' die Wald- und Wiesenpfade, die man von hier erblickte, die Hedwig mit Alice durchwandert hatte.
Der Baron mochte seinen eigenen Gedanken nachgehen. Mehrere Male schon hatte er den Versuch gemacht, etwas zu sagen, aber es gelang ihm nicht. Jetzt fing er nochmals an.
»Sagen Sie mir, wollen Sie mir als gute, alte Freundin einen Rat geben?«
»Von Herzen gern und treulich«, antwortete Hedwig.
»So sagen Sie mir – glauben Sie – was meinen Sie, wenn ich auch nach Italien ginge? Ich meine, ob ich – ob sie – ob wir beide –« Der Baron stockte.
»Gehen Sie nicht nach Italien«, fiel Hedwig ein. »Sagen Sie mir nichts weiter; aber glauben Sie mir, gehen Sie nicht nach Italien jetzt.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja, ganz sicher.«
»So. Dann geh' ich heim zur Mutter«, sagte der Baron halb komisch, halb schmerzlich resigniert.
Am folgenden Morgen, als Hedwig aus dem Frühstückszimmer auf die Veranda heraustrat, stand der Baron völlig reisefertig draußen. Der bepackte Wagen vor der Tür bestätigte Hedwigs Vermutung.
»Sie reisen, jetzt gleich?« fragte sie erstaunt.
»Ja«, erwiderte er, »je schneller, je besser; nur fort jetzt, fort, aus allem weg! Aber schön war's hier!«
Noch einmal schaute er ringsum; seine letzten Blicke schweiften hinauf nach der weinumkränzten Waldhöhe. Dann schüttelte er Hedwig die Hand und stieg in den Wagen.
Wenige Tage nachher verließ auch Hedwig den lieblichen Erdenwinkel im Rhonetal, unvergeßliche Erinnerungen mit sich tragend.
Frau v. L. hatte schon längere Zeit vorher die Pension verlassen, nicht ohne Hedwig noch einmal wohlmeinend ihren Weg, den sie als den einzig richtigen erkannt wissen wollte, ins Gedächtnis zu rufen. Hedwig erkannte gern die Wohlmeinenheit an; aber auf dem Wege konnte sie nicht folgen.
Nur die lahme Juliette ließ sie allein noch als nahe Bekannte zurück, eine Bekannte, von der ihr der Abschied leid tat. Auch Hedwigs letzte Blicke beim Fortgehen suchten nach der Bank am waldumsäumten Rebenhügel.
Sechstes Kapitel
Ein Jahr war vergangen. Die letzten Oktobertage mit ihrem milden Sonnenschein hatten in Hedwigs Herzen das Andenken an die vergangenen sonnigen Herbsttage lebendig wachgerufen. Mit Alice war sie in fortwährendem Verkehr geblieben. Die Reisenden hatten im Frühjahr Italien verlassen und waren nach Norddeutschland gezogen, um da die zahlreichen Verwandten der verstorbenen Mutter aufzusuchen und den Sommer mit ihnen zu verleben. Auf den Spätherbst gedachten sie nach ihrem Sitze in Südfrankreich zurückzukehren. Alice hatte die Waldhügel des Rhonetals in warmem Andenken behalten.
»Nicht die Pinien des Südens«, hatte sie geschrieben, »noch die herrlichen Buchenwälder hier auf Rügen haben sich so tief in mein Herz gegraben wie die Wipfel jener dunklen Kastanienbäume, auf welche eine einsame Bank am grünen Bergabhange niederschaut.« –
Endlich erschien der langersehnte, erste Brief aus der Villa Inglese im Süden. Hedwig öffnete ihn mit bangender Erwartung. Wie mochte Alice nach allen ihren Erfahrungen in der alten Umgebung zu Mute sein? Nach den herzlichen Worten der Begrüßung und den letzten Nachrichten über den Aufenthalt in Deutschland hieß es weiter in dem Briefe:
»Doch nun zu unserer Ankunft in der Heimat und allem seither Erlebten. Kaum hatten wir unsere Villa betreten, als mein Vater sogleich nach seinem Freunde, dem Prediger, ausschickte, der ihm doch über die ganze Zeit der Reise empfindlich gemangelt und ihm das Heimkommen lieb gemacht habe, wie er uns sagte. Pastor A. erschien. Er kam uns allen so schweigsam und zurückhaltend vor, daß es uns schien, die Zeit der Trennung habe ihn uns völlig entfremdet und von uns abgelöst. Es war eine peinliche Stunde. Wie er fortging, sagte ihm mein Vater, nun möge der Pastor nur sein gewohntes Wesen wieder herauskehren; so ginge es nicht, er wisse auch nicht, wie man in der Zeit der Trennung sich hätte fremd werden können, im Gegenteil gedenke er des alten Freundes sich mehr zu freuen als je, nun er der oberflächlichen Beziehungen ein ganzes Jahr durch genug gepflegt habe. Er forderte den Pastor auf, seine alten Gewohnheiten wieder aufzunehmen und uns seine Abende zu schenken. Der Pastor sagte einige ausweichende Worte von In-Anspruchgenommen-sein. Nun ergriff der Vater seine Hand und sagte mit gebieterischer Herzlichkeit: ›Pastor A., für Ihren Sonnabend und Sonntag geben wir Sie frei, die anderen Tage gehören Sie uns; dabei bleiben wir‹.
»Pastor A. mußte versprechen, in den nächsten Tagen wiederzukommen und fortzufahren wie in alter Zeit. So saßen wir einige Tage darauf in alter, gewohnter Weise um das Kamin herum, und es war, als könnten einmal noch die vergangenen schönen Tage wiederkommen. Aber alles war doch so anders, als es gewesen war. Pastor A. saß wohl wie ehemals mit gekreuzten Armen in seinem Lehnstuhl, aber er war still, und seine Stimme hatte einen ganz kalten Ton bekommen, vornehmlich, wenn er zu mir sprach, was er freilich nur tat, wenn es die Höflichkeit gebot. Mein Vater saß neben ihn, und erzählte von unserer Reise.
»›Und nun sind wir wieder hier‹, schloß er seine Erzählung ab, ›und Sie hier wieder zu finden, Pastor, das ist meine Freude. Ohne Sie wäre es doch kaum erfreulich, den Winter hier zu verweilen.‹
»Pastor A. sagte einige Worte von Dank, den er meinem