Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri

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Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri

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Denn ich fiel der guten Mutter als völlige Überraschung ins Haus, und mitten drin sag' ich: ›Da hast du mich wieder, Mütterchen, und weil es dir Freude macht, so will ich denn auch gleich heiraten.‹ Schreckenbleich hält sie einen Augenblick inne. ›O mein einziges Kind‹, ruft sie aus, ›so hast du dein Herz in Amerika –‹

      »›Nein, nein, Mütterchen, so weit weg nicht‹, sag' ich; ›nur drüben hab' ich's, bei Nachbars Lili, und wenn dir's recht ist, so holen wir sie 'mal gleich herüber.‹ Nun kamen die Freudentränen erst recht, und von Zeit zu Zeit kommen sie seither immer wieder, wenn mich Mütterchen ansieht und dabei die Hände faltet, so als dankte sie leise. Und zu danken haben wir auch Ursache, sind wir doch die drei glücklichsten Menschen auf diesem Erdenrund. Und nun kommen Sie nur bald nach Deutschland, uns alle drei zusammen zu sehen! In der Schweiz bin ich gewesen, Gott weiß es, und Sie wissen es auch! Aber meine kleine, prächtige Lili muß ich Ihnen durchaus zeigen; ich gebe Ihnen mein Ehrenwort darauf, sie wird Ihr Herz in fünf Minuten gewinnen. Und nun ist's an Ihnen, zu erzählen, lassen Sie mich nicht lange warten!

      In bleibender Freundschaft

      Ihr

       O. v. K.«

      Um die waldigen Hügel im Rhonetale haucht noch alljährlich der Herbst seinen duftigen Farbenschmelz. Am Waldsaume hoch oben steht noch die alte Bank und schaut auf dieselbe Schönheit nieder, die sie von Jahr zu Jahr erneut gesehen, und hinter dem Kastanienwald am einsamen Abhang steht eine andere noch, auf welche dunkle Baumwipfel und graue Felsen blicken und ihr von alter Zeit erzählen.

      Unter dem Kirschbaum am Wiesenwege sitzt aber nicht mehr das lahme Kind. Seine Hülle liegt draußen auf dem sonnigen Gottesacker unter dem grünen Rasen. Die weißen Schmetterlinge schweben wonnig auf und nieder um den stillen Grabhügel, als wollten sie des Kindes Los verkünden, das, seiner kranken Hülle entflohen, mit entfesselten Schwingen zum neuen, sonnigen Leben erwachen durfte.

       Schloss Wildenstein

       Nollagrund

       Allerlei Unruhe

       Schloss Wildenstein

       Eine unerwartete Erscheinung

       Schwere Luft

       Neue Freunde

       Was der Mutter Abwesenheit nach sich zieht

       Mäzli macht Besuche

       Im Schloss

      Nollagrund

       Inhaltsverzeichnis

      Schon seit bald zwanzig Jahren stand das alte Schloss still und verlassen dort auf der Höhe. Kein Ton war weithin zu hören, als das Zwitschern der Vögel und das Rauschen der alten Föhren rings um das Schloss. Um die runden Ecktürme schwirrten am hellen Sommerabend die Schwalben wie ehemals; aber von den Turmbalkonen schauten keine fröhlichen Augen mehr auf die grünen Wiesen und auf die reichbeladenen Apfelbäume im Talgrund nieder. Zwei lustige Augen aber schauten eben jetzt aus dem Wiesengrund zu dem alten Schloss auf und forschten und spähten, als könnten sie hinter den festverschlossenen Fensterladen etwas ganz Besonderes entdecken.

      »Mea«, rief der Späher plötzlich in aufgeregtem Ton, »jetzt, jetzt, komm schnell, nun geht’s auf.« Mea, die auf der Bank unter dem grossen Apfelbaum sass, ein Buch in der Hand haltend, legte dieses hin und kam herbeigerannt.

      »Sieh, sieh, nun bewegt es sich«, fuhr der Bruder immer erregter fort, »es ist ein Arm in einem schwarzen Rock, nun stösst er gleich den ganzen Laden auf.« In diesem Augenblick erhob sich der schwarze Gegenstand und schwang sich zum Turm empor. »Ein Vogel war’s, ein grosser, schwarzer Vogel«, sagte Mea enttäuscht. »Nun hast du mich gewiss schon zwanzigmal gerufen, ich solle sehen, wie die Laden sich öffnen, und nie gehen sie auf. Ich komme nicht mehr, du kannst rufen, soviel du willst.«

      »Sie gehen doch einmal auf, ich weiss es«, behauptete der Junge fest, »man weiss nur nicht wann; aber es kann jeden Tag sein. Wenn nur der steife, alte Trius antworten wollte, wenn man ihn fragt, der weiss alles, was da oben vor sich geht; aber der alte Brummer sagt nie ein Wort, und wenn man ihm nahekommt und mit ihm sprechen will, kommt er gleich mit dem dicken Stock auf einen los. Er will natürlich nicht, dass man weiss, wie es da oben zugeht; aber in der Schule wissen sie alle, dass es oben nicht sicher ist und dass ein Gespenst umgeht und durch die Föhren heult. Ich glaube es gar nicht; aber der alte Trius könnte doch ein wenig sprechen und einem erklären, was da vorgeht.«

      »Nichts geht vor«, fiel Mea ein, » das hat die Mutter nun schon ein paarmal gesagt, und sie will auch nicht, dass du immer von dem Gespenst mit den Schulkindern sprichst und immer zu erforschen trachtest, was sie davon wissen. Und den Schlosswächter musst du Herr Trius nennen, nicht nur Trius, du weisst, dass die Mutter es will!«

      »Ja, ja, ich will ihn schon Herr Trius nenne; aber auf den mach ich sicher ein Lied und zeichne ihn deutlich, warte nur«, sagte Kurt drohend.

      »Er ist doch nicht schuld, dass es keinen Geist von Wildenstein gibt, von dem er erzählen könnte«, bemerkte Mea.

      »Er wüsste aber genug zu erzählen«, fuhr Kurt eifrig fort. »Natürlich sind in dem alten tausendjährigen Schloss da droben die wunderbarsten Dinge vor sich gegangen; die weiss er ja alle und könnte einem davon erzählen; aber er kennt nur eine Antwort auf alle Fragen: Prügel. Weisst du, Mea, ich glaube natürlich gar nicht an Geister und Gespenster und so etwas; aber sich vorzustellen, dass da oben so ein uralter Herr von Wallerstätten im Harnisch auf der Zinne herumspaziert oder unter den alten Föhren steht und mit wilden Augen und drohender Gebärde ins Tal hinabschauen könnte, ist so erfreulich, nur schon, um ihn zu bekämpfen und ihm zuzurufen, dass man sich nicht vor ihm fürchtet.«

      »Ja, du würdest schön fortlaufen, wenn der Ritter im Harnisch mit den wilden Augen dir näher käme«, sagte Mea. »Es ist nicht schwer, so furchtlos zu sein, wenn man so weit weg vom Schrecklichen ist wie du hier.«

      »Ich fortlaufen, aus Furcht vor einem Gespenst! Oho«, lachte Kurt auf, »da kennst du mich wenig, eher würde der Geist aus Furcht vor mir davonlaufen, wenn ich ihn recht anschreien würde. Jetzt will ich ein Lied auf ihn machen, und dann gehen wir hinauf und singen’s ihm vor. Meine Kameraden aus der Schule müssen mit, die tun es so gern, Marx und Hans, und Clevi, die Schwester , muss auch mit, und dann kommst du auch, Mea, du sollst sehen, wie wir den Geist anschreien und ansingen, dass er sich ganz erschrocken verkriecht.«

      »Aber es gibt ja gar keinen, Kurt, wie kann er sich denn verkriechen?«

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