Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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Es fiel kein liebevoller Rat bei Alice auf unfruchtbaren Boden; wenn ein solcher den Lebenssamen der Wahrheit in sich schloß, so trug er seine Frucht in ihrem Herzen.
Die Tage gingen dahin. Schaute auch aus Alicens tiefen Augen keine Freudigkeit heraus, so konnte doch Hedwig bemerken, daß das unruhig Erregte ihres Wesens sich leise milderte und wie ein stiller, freilich traurig stimmender Ton der Ergebung aus ihren Worten klang. –
Schon ging nun der Oktober zur Neige. Um die Berge lagen die Nebelwolken länger am Morgen und am Abend stiegen sie früher auf. Die lichten Sonnenuntergänge wurden seltener, doch blieben Alice und Hedwig ihren täglichen Wanderungen unverbrüchlich treu, wenn nicht entschiedene Regengüsse sie daran verhinderten. Zogen die Freundinnen auch noch so unbemerkt auf ihre Gänge aus, so wollte doch ein beharrlicher Zufall, daß sie zum Schluß der Wanderung immer noch auf den Baron treffen sollten. Alltäglich um dieselbe Zeit, an derselben Stelle sitzend, erkannten sie den Freund von weitem schon, der jetzt, aller menschlichen Gesellschaft abgewandt, sich einem beschaulichen Anachoretenleben zuzuwenden schien.
Da saß er wieder auf der weltverlassenen Bank, tief in Gedanken versunken, als am kühlen Oktoberabend die Freundinnen ihrem gewohnten Ruheplatz nahten.
»Sie müssen seit einiger Zeit eine große Vorliebe für die Einsamkeit gefaßt haben, Herr Baron«, sagte Hedwig herantretend.
»Unbeschreiblich«, rief er aus, indem er den Damen Platz auf der Bank machte und sich vor sie hinstellte; »geschieht mir aber, daß ich in solcher Weise darin gestört werde, dann zieh' ich das Begegnen der Einsamkeit vor.«
Schon hatten die Nebelwolken die Berge eingehüllt und einen grauen Schleier um das Tal gelegt, noch ehe die Sonne untergegangen war.
»So düster habe ich das Tal kaum je gesehen«, sagte Alice.
»Ich habe eben darüber nachgedacht, meine Dame«, begann der Baron ernsthaft, »warum drei vernunftbegabte Wesen vorzugsweise diese Bank freudeloser Unwirtlichkeit aufsuchen, wo man nichts sieht, als grau starrende Felswände, und nichts hört, als das Gekrächze kummervoller Waldraben, da doch nur eine Strecke davon entfernt eine Bank von einladendstem Charakter steht, die hinunterschaut auf das lebensfrohe Tal. Da hört man Herdenglocken und Hirtenjauchzen und sieht die frisch beschneiten Gletscher schimmern. Wie ist dies Unerklärliche zu deuten?«
»Für uns dadurch«, entgegnete Hedwig, »daß Fräulein Alice die Bank freudeloser Unwirtlichkeit mehr liebt, als diejenige von einladendstem Charakter.«
»Kennen ist lieben, sagt ein großer Mann«, rief der Baron aus. »Kommen Sie nur ein einziges Mal nach der anderen Bank hin und lernen Sie diese kennen! Tun Sie mir den Gefallen, mein Fräulein! Jetzt kommt ohnehin mein Geburtstag, da machen Sie mir doch eine Freude?«
Alice willigte lächelnd ein. Den Freudentag müsse ja jemand mit ihm feiern, damit ihn nicht die Erinnerung an das Vaterhaus zu traurig stimme. Da sei wohl immer ein großes Fest gewesen an dem Tage, meinte sie.
Der Baron bestätigte dies vergnüglich.
»Ich habe auch meiner Mutter geschrieben«, fügte er hinzu, »daß sie mir nur ja auf diesen Tag die Pfeffernüsse nicht vergesse, denn nur beim stillen Nagen brauner Pfeffernüsse werden die alten, echten Geburtstagsgedanken hervorgebracht.«
Die Wolken wurden dunkler und dichter; es war geraten, heimzukehren.
Als Hedwig am späteren Abend noch einmal durch den Garten ging nach dem tüchtigen Regenschauer, der aus den dunkeln Wolken gefallen war, kam der Baron von der Straße herein, er war in allem Regen herumgewandert. Er stellte sich vor Hedwig hin.
»Nein«, rief er aus, »wenn ich doch diese Augen nur einmal in Freude aufleuchten sehen könnte!«
»Ich stelle mir vor, Sie meinen Fräulein Alicens Augen, obschon es auch noch andere gibt«, bemerkte Hedwig.
»Wo gibt es denn andere, von denen man reden könnte?« warf der Baron zurück.
»Auch ich möchte Freude in diesen Augen sehen«, sagte Hedwig einstimmend. »Aber Ihnen, Herr Baron, möchte ich als alte Freundin einen guten Rat geben: beherzigen Sie doch die Briefe Ihrer Mutter wohl und besonders, was sie darin von den Töchtern des Landes und den Gefahren der Fremde schreibt.«
»Daß Gott erbarm', nun fangen auch Sie noch an!« rief der Baron jammervoll. »Fehlt nur noch, daß Sie mir auch den goldenen Haarwuchs noch ins Gedächtnis rufen.« Damit lief er fort.
Es folgten mehrere graue, dunkle Regentage. Die Freundinnen saßen meistens in ihrer Stube beisammen. Als am vierten Tage die Sonne strahlend über den Bergen aufgegangen war und das Gefilde frisch erwacht im Herbstschmuck prangte, zog es Hedwig früh hinaus; sie wollte einen Strauß der duftigen Feldblumen holen, denn heute war der angekündigte Geburtstag: der durfte nicht vergessen werden. Welch unvergleichliches Festgewand hatten doch der Himmel und die Erde angezogen, ihn zu begrüßen!
Als Hedwig nach einigen Stunden reichbeladen zurückkehrte, suchte sie gleich Alice auf, damit auch sie sich an den lieblichen Feldblumen erfreuen möge. In ihrem Zimmer war sie nicht zu finden. Hedwig ging nach ihrer eigenen Stube. Hier stand Alice marmorweiß an einen Stuhl gelehnt und hielt einen Brief in der Hand. Hedwig ging es wie ein Messer durchs Herz: das mußte der lang erwartete Brief der Schwester sein.
»Lesen Sie selbst«, sagte Alice, das Blatt hinhaltend; sie zitterte so sehr, daß es ihrer Hand entfiel; sie selbst sank auf den Sessel nieder und legte ihren Kopf in beide Hände. Hedwig ergriff das Blatt und las:
»Sei mir nicht böse, liebe Alice, daß ich Dir so lange nicht geschrieben habe. Ich konnte es nicht tun, ich hatte allen Mut und alle Freudigkeit verloren. Wie wirst Du aber erstaunen über die Mitteilung, die ich Dir heute zu machen habe: zwischen Eduard K. und mir ist alles abgebrochen. Ich werde nie nach Indien gehen, Major K. ist schon abgereist.«
Dann folgte die Erklärung der veränderten Lage.
Major K. hatte durch sein gewalttätiges Wesen Lucy mehr und mehr niedergedrückt. Vor dem Vater hatte er Respekt, in seiner Gegenwart ließ er sich nie gehen, so daß der Vater ihn nur von seiner einnehmenden Seite kannte. Lucys leise Klagen wurden daher vom Vater immer bestimmt abgewiesen als kindische Empfindlichkeiten, die sich geben würden, sobald sie mit dem Manne vereinigt wäre und sie sich erst recht kennen würden. Lucy verlor allen Mut, schwieg stille und suchte ihre wachsende Angst damit zu beschwichtigen, daß sie sich des Vaters Worte vorsagte, wenn sie auch kaum daran glauben konnte. Der Tag der Hochzeit war festgesetzt. Noch sollte sie im nahen Kurorte einen Tag zubringen; ein alter Freund ihres Vaters war mit seiner Familie dort angekommen. Lucy kehrte am Abend nicht zurück, wie festgesetzt worden war. Der alte Herr hatte darauf bestanden, sie am folgenden Tage selbst nach Hause zu bringen, um ihren Vater zu begrüßen. Major K. war am Abend gekommen, sie zu sehen, und hatte vergebens auf sie gewartet. Am folgenden Tage trat er mit funkelnden Augen in das Haus; er traf Lucy allein. Bevor sie reden konnte, übergoß er sie mit den heftigsten Vorwürfen über ihr Ausbleiben, da sie doch gewußt habe, daß er solches nicht ertrage; es sei zum letzten Male vorgekommen, er werde Mittel finden, ihr verständlich zu machen, daß sie sich nach ihm zu richten habe, nicht nach ihren Launen. Als sie sich leise entschuldigen wollte, sie sei festgehalten worden, und der Freund ihres Vaters werde alle Verantwortung auf sich nehmen, brach der Zorn über den alten Herrn und