Gesammelte Werke von Johanna Spyri. Johanna Spyri
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Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Johanna Spyri - Johanna Spyri страница 88
»Dann lief der Vater wieder im Zimmer herum in steigender Aufregung.
»Pastor A. sagte, er habe immer danach verlangt, nach den Hochlanden zurückzukehren, wo er seine Kindheit verlebt habe, der Tausch werde ihm nicht schwer.
»›Was, nach den Hochlanden?‹ rief mein Vater aus und stand vor Erstaunen mitten in seinem Laufe still. ›Nicht einmal nach Edinburg? Das ginge noch an! Doch nicht nach den Einöden der Trossecks, wo Sie einmal gelebt haben?‹
»Das war gerade der Ort, wohin der Pastor berufen war, nach dem er sich auch lange schon gesehnt hatte, wie er sagte, wohin er vor allen anderen gewünscht hatte versetzt zu werden.
»›Gesehnt‹, brummte mein Vater vor sich hin, ›Jugenderinnerungen, Einbildungen!‹ Dann brach er wieder los: ›Das ist nichts, Pastor! Bin ich nicht auch ein Schotte? Kenne ich unser Land nicht auch? Glauben Sie mir: ein paar Sommer lang als Junge sich in den Hochlanden herumtreiben und als lebensreifer Mann da sich festsetzen, die endlosen Wintermonate in dieser Abgeschiedenheit eingeschneit in seiner Hütte verleben, das ist zweierlei. Abgetrennt zu sein von allem, was lebt und denkt, wie wollen Sie das fertig bringen? Und dann Sie, Pastor, allein wie Sie stehen, Sie haben ja nicht einmal eine Frau!‹ Mein Vater hatte sich in volle Aufregung hinein gesteigert, sonst hätte er ihm dies Wort wohl nicht so frei hingeworfen.
»Völlig ruhig entgegnete der Pastor:
»›Die Gegend der Trossecks ist meine Heimat, sie ist mir lieb, und ich freue mich, dahin zu gehen. Als ich die Stelle annahm, wußte ich, daß ich allein dahin gehe und allein da bleiben werde. Ich weiß, daß eine Frau von geistigem Wesen es nicht in jener Einsamkeit aushalten würde, daß sie nicht wüßte, was sie da mit ihrem Leben anfangen sollte, daß es ihr als ein Begrabstein erschiene. Das soll der Mann sich sagen, der sich eine solche Lebensstellung wählt.‹
»Mein Vater, der keine Ahnung hatte, wessen Worte Pastor A. wiederholte, sagte nun beschwichtigend:
»›Bah, bah, Pastor, so schlimm ist's nicht, so könnte nur eine Frau reden, die Sie nicht kennt.‹
»Pastor A. schwieg. Es trat eine große Stille ein. Nun stand ich auf, hielt Pastor A. meine Hand hin und sagte:
»›Oder eine, die ihr eigen Herz nicht kannte und die des Ihrigen nie wert gewesen wäre. Aber ich bin durch viel Reue und Buße gegangen und habe bitter gelitten um meiner Worte willen. Nun vergeben Sie auch und lassen Sie uns die alten Freunde sein, solange wir Sie noch bei uns behalten dürfen.‹
»Pastor A. schaute mich an, als spräche ich eine Sprache, die er erst nach und nach verstehen könnte. Dann ergriff er meine Hand, und dann – dann hat er sie gar nicht wieder losgelassen, und so kam es dahin, daß ich heute seine Verlobte bin, seiner durchaus nicht wert in der Armut meines Wesens, aber unaussprechlich froh und reich durch den Reichtum seines inneren Lebens und die Fülle seiner großen Liebe. Im Frühjahr ziehen wir nach den Hochlanden. Keine Gegend der Erde wäre mir zu einsam an seiner Seite, und was ich mit meinem Leben anfangen kann, weiß ich auch. Wieviel habe ich gelernt auf dem unvergeßlichen Fleckchen Erde im Rhonetal! Es wird ja der Leidenden und Traurigen genug geben unter der Herde von Pastor A., daß auch mir mein Teil zu lindern und zu helfen zufallen wird, und ich kenne keine herzerfreuendere Tätigkeit. Der Vater und Lucy ziehen mit; wenn auch nicht ganz zu uns, so doch in unsere Nähe, auf das alte Gut am Tay. Der Vater sagt, wer einmal mit Pastor A. gelebt habe, der könne nicht mehr ohne ihn sein; so müsse er denn, gern oder ungern, wieder in die Hochlande zurück.«
Alice schloß, noch einmal in warmer Weise der Tage im Rhonetale gedenkend, an die sich für sie die tiefst bewegenden, ihr innerstes Leben umgestaltenden Erinnerungen knüpften. In keinem ihrer Briefe hatte sie des lebensfrohen Gefährten aus jenen Tagen vergessen, auch in diesem fragte sie mit Herzlichkeit nach ihm.
Von dem Baron hatte Hedwig lange Zeit keine Kunde mehr, bis sie endlich durch eine gemeinsame Bekannte hörte, er sei zum großen Leiden und Kummer seiner Mutter für immer nach Amerika gegangen. –
Wieder war das Jahr herum; wieder lag der Herbsthauch auf den Gefilden und erregte in Hedwigs Herzen Erinnerungen an vergangene Tage, als sie über die Gartenhecke hin nach den fallenden roten Blättern schaute. Der Brief, den ihr eben das Mädchen übergab, stimmte völlig zu ihren Gedanken: es war die Hand des alten Freundes, von dem sie so lange nicht einen Ton mehr vernommen hatte.
Der Brief kam nicht aus Amerika. Hedwig las: »Der alten Freundin eine frohe Botschaft zu verkünden, ergreife ich die Feder; für die schlimmen lasse ich sie lieber liegen. Ich war nach fernen Landen gezogen, weil ich es daheim nicht mehr aushalten konnte. Fort mußte ich – am liebsten über den Ozean. So tat ich. Aber ich bin herumgeholt worden. Erst ging unser Schiff fröhlich dahin, das Meer wogte im Sonnenschein, und ich sagte: Woge nur immer höher und trage mich so weit weg, daß ich gar nichts mehr weiß von allem, was dahinten liegt! Dann kam ein Sturm über uns hereingebrochen, den keiner vergessen wird, der ihn mit erlebt hat. Wir waren alle unseres Endes gewärtig. Da wird es einem armen Menschenwesen elend zu Mute. Ich lag unten in meiner Kabine; die Wogen brüllten ringsum und drangen herein. Ich sagte mir: Es ist der Tod, wenn nicht Gott im Himmel uns noch helfen will. Und ich wollte beten und sagen, ich habe ja auch meine Pflicht getan und recht gelebt und wollte es weiter tun; nun solle Er mir auch beistehen in der Not. Aber vor mir stieg das gerade Gegenteil von alle dem auf, und aus allen Zeiten meines Lebens stand alles Unrecht und schlechte Tun, das ich lange vergessen hatte, auf einmal klar vor meinen Augen und fing an mich zu brennen im Gewissen, so daß ich in große Angst geriet und es in mir stöhnte: ›Es hilft dir nichts mehr, du fährst ins Verderben.‹ Da kam mir wie ein Licht das Wort ins Herz, das mir einmal Eindruck gemacht hatte: ›Doch, ich weiß etwas, das helfen kann‹ – und ich fiel auf meine Kniee nieder und rief: ›Ach, lieber Gott, sei du dem armen Sünder gnädig!‹ Es war ein Gebet aus der Tiefe heraus, das können Sie mir glauben.
»Wir wurden gerettet. Wie wir ans Land stiegen, war mir, als lägen Jahre hinter mir, seit ich die Heimat verlassen hatte, und als sei ich ein anderer, als da ich drüben abgereist war. Was wollte ich da tun im fremden Lande? Warum war ich denn fort von dort, wo mir wohl sein konnte und wo ich daheim war? Warum war ich von der Mutter weggelaufen, die nun einsam drüben saß und weinte? So fragte ich mich und setzte mich hin und tat gerade dasselbe, was drüben die Mutter tat. Nur wieder heim, war mein einziger Wunsch. Ihn gleich auszuführen, ging ja nicht an; aber mich für Jahre oder für immer im fremden Lande niederzulassen, wie ich gedacht hatte, davon konnte keine Rede mehr sein. Ich brachte ein Jahr drüben zu, es wurde mir lang genug; aber gelernt habe ich manches und weiß auch für mein ganzes Leben, daß der die Heimat zu schätzen weiß, den einmal das Heimweh bis auf die Knochen abgezehrt hat. Was ich in den Todesschrecken der Sturmnacht auf dem Schiffe gelernt, das habe ich seither auch nicht wieder vergessen und will es, so mir Gott helfe! mein Leben lang im Gedächtnis behalten! Aber als ich endlich wieder auf meinem heimatlichen Boden stand, da war mir, als müsse ich allen um den Hals fallen, die auch darauf standen.
»Und so fuhr ich am sonnigen Morgen die Straße hinauf, wo rechts das Haus der Mutter steht, und links steht auch eins. Und wie ich bei diesem an die Fenster hinaufschaue, da seh' ich auf dem Balkon ein Mägdlein stehen, dem fielen die Ringellocken über die Achseln herunter wie lauter Gold in dem hellen Sonnenschein, und das Mägdlein erkennt mich und lacht und winkt mit Augen und Händen und ist das lieblichste Wesen, das je die Sonne beschienen hat. Und ich lache und winke wieder, und wir winken noch einmal, und dann geht's rechts