Im Bauch des Wals. Annemarie Bauer

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Im Bauch des Wals - Annemarie Bauer

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gesamten Bedürfnisse auf ein dann entsprechend überschätztes Objekt richtet und im Zusammenbruch seiner Erwartungen in eine Krise gerät, die seine Rückzugsneigungen und regressiven Wünsche verstärkt.

       Entwicklungsrisiken

      Wenn Eltern keine stabile Beziehung haben, wenn die Mutter, die ein Kind versorgen soll, nicht ausreichend gut von ihrer Umwelt gestützt wird und mit ihr in stabilem Austausch steht, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass sie bereits zu Beginn der Entwicklung dem Kind keinen ausreichenden Reizschutz bieten kann. Die typischen, statistisch nachgewiesenen Risikofaktoren wie z. B. Sucht eines Elternteils oder Geschwistergeburt in einem Abstand von weniger als einem Jahr belegen diesen Einfluss ebenso wie die seit langem bekannte Verknüpfung zwischen Zufriedenheit der Eltern und seelischer Anfälligkeit der Kinder. „Zufriedenheit“ ist eine seelische Folge angemessener Austauschsituationen. So bieten „zufriedene Hauseltern“ die günstigsten Möglichkeiten für die Entwicklung psychisch stabiler Kinder; „zufriedene berufstätige Eltern“ die zweitbeste, „unzufriedene berufstätige Eltern“ die drittbeste und „unzufriedene Hauseltern“ die schlechteste.

       Autismus

      Das Versagen des frühen Reizschutzes führt in seinen extremen Formen zu autistischen Störungen. Bei den schwersten Fällen des kindlichen Autismus scheint eine organische Disposition vorzuliegen, welche es dem Kind erschwert, andere Menschen in ihren Potenzialen als Spender von Reizschutz zu nutzen. Die betreffenden Kinder nehmen keinen Kontakt auf und geraten sehr leicht in Panik, wenn z. B. eine ihrer stereotypen Handlungen unterbrochen wird oder die Ordnung in ihrem Spielzimmer ein wenig verändert ist. Während solche extremen Fälle sehr selten sind, lassen sich mildere Formen dieser Verwendung der Ordnung bei den meisten Menschen beobachten.

      Wenn sich in der Umwelt nichts ändert, wenn wir nach einer Trennung alles so wiederfinden, wie wir es verlassen haben, beruhigt und entlastet uns das. Wie sehr, das erkennen wir oft erst, wenn während unserer Abwesenheit ein Einbrecher unsere Wohnung durchwühlt oder ein Hagelsturm unseren Garten demoliert. Verletzungen der körperlichen Ordnung durch Krankheiten, Operationen sind noch belastender. Die Belastung steigt, je ausgeprägter das Trauma Grundbedürfnisse verletzt, je mehr Grundbedürfnisse verletzt werden und je nachlässiger sich die Umwelt nach dem Trauma um Wiedergutmachung bemüht.

      So wird der Einbruch belastender, wenn die Versicherung nicht zahlt und die Polizei dem Beraubten vermittelt, er sei durch eigene Nachlässigkeit an dem Geschehen beteiligt. Wenn eine Vergewaltigung ein extrem traumatisierendes Ereignis sein kann, liegt das auch daran, dass eine Frau von einem Mann, den sie sich als Beschützer wünschte, missbraucht worden ist und anschließend häufig aus ihrer Umwelt absurde Vorwürfe einer Mitverantwortung kommen.

      Die so geschaffene Kluft zwischen dem Trauma und der ohnedies unserem Erleben eigenen Tendenz, Traumen vorauszusehen und zu vermeiden, verstärkt traumatische Erfahrungen massiv. Hier wurzelt ein sozialer Mechanismus, der für die Traumatisierten höchst verhängnisvoll sein kann: Um sich zu entlasten und eigene Fantasien, Wiedergutmachung leisten zu müssen, abzuwehren, werden Traumatisierte durch Schuldzuweisungen erneut verletzt.

      Um sich diesem Prozess zu entziehen, setzen nicht wenige Traumatisierte ihre seelischen Verletzungen, an denen sie sich schuldig fühlen, in körperliche um. Wenn die Spannung durch innere, unsichtbare Unordnung unerträglich wird und seelisches Leid mit Erfahrungen der Abwertung und Schuldzuschreibung verknüpft wird, beruhigt eine sichtbare Wunde. Daher die Neigung vieler in dieser Weise belasteter Menschen, sich selbst Verletzungen zuzufügen, sich mit scharfen Klingen zu schneiden, sich Haare auszureißen oder Nägel zu kauen.

      Die Regression auf archaische Ordnungsbedürfnisse bestimmt auch viele Symptome der Zwangskranken. Diese werden süchtig nach Handlungen, die geeignet scheinen, auf einfache Weise einen unordentlichen Zustand (schmutzige Hände) in einen ordentlichen (saubere Hände) zu verwandeln. Die Sucht auf die Entlastung von der Angstspannung drückt sich dann in der Wiederholung der entspannenden Aktion aus.

       Einsamkeit und Teilnahme

      Der Zwangskranke versucht sich in einer Pseudo-Selbstbestimmung völlig allein mithilfe seiner Rituale zu stabilisieren. Er meidet einen Dialog mit anderen, in dem er sich mit seinen Gefühlen anvertrauen und die einsame Kontrolle über seine Innenwelt durch die Kontrolle im Gespräch, im Austausch mit anderen ergänzen müsste.

      Der Mensch verfügt über die Fähigkeit, Fantasiewelten aufzubauen, Erinnerungen zu betrachten (sie „widerzuspiegeln“, zu reflektieren) und mit der Hilfe solcher Entwürfe sowohl sich selbst wie auch die Wirklichkeit zu verändern. Das bedeutet unter anderem auch, dass er sich selbst traumatisieren kann, indem er sich von der seelisch notwendigen, aber körperlich entbehrlichen Funktion des Austauschs mit anderen abschneidet. Was einem nicht zur Reflexion begabten Organismus nur ausnahmsweise gelingt, wird für den Menschen zu einem schwerwiegenden Problem. Je mehr Bildung, Information, mediale Durchdringung der Umwelt, desto größer auch das Risiko der Selbsttraumatisierung.

      Das Individuum braucht den Spiegel des anderen, um die für den Einzelnen kaum lösbare Aufgabe zu bewältigen, eine in der Fantasie entworfene Wertwelt mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen.

      Nehmen wir das Abendgespräch eines Paares: Der Mann erzählt von seiner Arbeit, von dem Kollegen, der sich als tückischer Konkurrent entpuppt, die Frau erzählt von ihrer Arbeit, von ihrer Kollegin, bei der ein Brustkrebs diagnostiziert worden ist; beide versuchen, indem sie einander zuhören, die Betroffenheit des anderen zu teilen, ohne doch selbst direkt betroffen zu sein. Ziel des Gesprächs ist, die Störung in die Normalität zu integrieren, die Last, dass es im Leben niemals glatt geht und wir jeden Tag mit Botschaften konfrontiert sind, die uns auf der Fantasieebene oder aber auch bereits in der Realität bedrohen, gemeinsam zu tragen.

      Die entlastende Funktion solcher Gespräche beruht darauf, dass die Ebenen der Realität und der Fantasie getrennt bleiben. Dadurch lässt sich eine Gefahr eingrenzen. Die Frau lässt sich von ihrem Partner überzeugen, dass dank ihres glücklichen Sexuallebens oder weil sie ihre Kinder – anders als die Freundin – gestillt hat, keine Krebsgefahr besteht. Der Mann glaubt ihr, dass sein bösartiger Rivale keine Chance hat, die Hochschätzung zu gefährden, die ihm vonseiten des Chefs gehört. Beide Ergebnisse können illusionär sein; menschliche Zuversicht ist häufig wenig mehr als das, was Ibsen „Lebenslüge“ nannte.

       Schnelle Entwertung und langsame Besinnung

      Die narzisstische Krise, die sich im explosiven Narzissmus zu ihrem Extrem steigert, wird von der Schnelligkeit geprägt, mit der das Individuum auf Kränkungen antworten zu müssen glaubt. Der jähe Wutausbruch, die wütende, entwertende Beschimpfung werden im Alltag meist mit Phrasen gerechtfertigt, die sie sozusagen als allgemeinmenschliche Reaktion ausgeben, die in diesem Fall leider nur zu rasch erfolgt sei. Dem prügelnden Ehemann ist „die Hand ausgerutscht“, dem entwertenden Chef „der Gaul durchgegangen“, die tellerwerfende Ehefrau ist „temperamentvoll“.

      Als universelle Gegenmittel werden von den Weisheitslehrern seit der griechischen Antike Besonnenheit, Mäßigung und Gleichmut gepredigt; in der jüdisch-christlichen Tradition auch noch Nächstenliebe. Der biblische Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ enthält auch einen Kern zum Verständnis des menschlichen Narzissmus: Es ist weder möglich, Nächstenliebe durch Strafe, Kritik oder Anleitung zum Selbsthass zu fördern (wie es nicht selten in der „schwarzen Pädagogik“

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