Im Bauch des Wals. Annemarie Bauer

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Im Bauch des Wals - Annemarie Bauer

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Tote zu verbrennen; die Griechen schauderten bei dem Gedanken, ihre Toten zu verspeisen. Das Ergebnis der Beratung war also, dass jedes Volk die eigenen Sitten für die besten hält, sie idealisiert, während es sich über fremde Sitten erhebt bzw. sie ablehnt.

      Was Herodot „Sitten“ nennt, hat viele Namen: Bräuche, Rituale, Benimmregeln, soziale Normen. Der präziseste Begriff dafür ist Institutionen. Abgeleitet von dem lateinischen Wort für einrichten, erfasst dieser Begriff alle Gebilde, die zwischen dem biologischen Organismus und seiner sozialen Umwelt seit alters her vorhanden oder eben im Entstehen begriffen sind. Solche Institutionen sind ebenso universell wie oft schwer wahrnehmbar, weil wir nur ausnahmsweise nicht in ihnen handeln, sondern über sie nachdenken.

      Institutionen begleiten uns von der Geburt bis nach unserem Tod, denn sie legen fest, wie wir begraben werden, welcher Stein mit welcher Inschrift auf unserem Grab steht und wie der Toten gedacht wird. Sie unterscheiden zwischen arm und reich, zwischen sozial angesehen und sozial geächtet – und sie verändern sich, langsam in traditionellen Gesellschaften, rasch in der Moderne.

      Einige der wichtigsten Institutionen sind die unterschiedlichen Rollen, welche den Geschlechtern und den Altersklassen zugeschrieben werden. Rolle war ursprünglich der auf gerolltem Papier geschriebene Text, den ein Schauspieler vor seinem Auftritt wissen musste. In der Soziologie dient dieser Begriff dazu, soziales Verhalten ähnlich den Vorschriften zu erfassen, die der Theaterdichter für seine Spieler geschaffen hat.

      In den ältesten Kulturen, die wir kennen, sind die Rollen flüchtig und stark biologisch orientiert: Männer und Frauen, Kinder und Alte verhalten sich in unterschiedlichen Rollen. Aber es gibt z. B. keine festen Berufsrollen und keine strikt rollenspezifische Arbeitsteilung. Bei den Buschmännern, einem Jägervolk der Kalahari, sind z. B. alle Männer und Frauen auch potenziell Schamanen, sie können sich oder andere in einem Tranceritual von Krankheiten heilen. Zwar ist das Sammeln eher Frauen-, das Jagen eher Männerarbeit, aber diese Rollenteilung ist längst nicht so strikt wie die ausgefeilten Arbeitsteilungen mancher agrarischen Kulturen, in denen es für Männer verboten ist, „weibliche“ Werkzeuge auch nur zu berühren (oft mit dem Argument, sie würden dann impotent werden). Wenn Frauen auf ihren Streifzügen ein Beutetier treffen, das sie erlegen können, tun sie das; wenn Männer keine Beute finden, sammeln sie Früchte, Wurzeln oder wilden Honig.

       Altsteinzeitliche Kulturen

      Die altsteinzeitlichen Kulturen der Jäger und Sammler (wie die der oben erwähnten Buschmänner) haben manche „modernen“ Qualitäten: demokratische Herrschaftsprinzipien, Konfliktlösungen nicht mit Gewalt, sondern durch räumliche Trennung, Kindererziehung ohne Prügel (vgl. Lee & De Vore 1969, Schmidbauer 1973). Das liegt daran, dass die Paläolithiker es sich leisten konnten, kindliches und triebhaftes Verhalten lebenslang zu tolerieren. Es war überflüssig, Institutionen zu entwickeln, welche eine innere Disziplin und Leistungsorientierung aufbauen. Die Natur war hart genug gegen jeden Faulen und Nachlässigen.

      Ein ausgewogenes Verhältnis zur Leistung und sozialen Ordnung war durch die Lebensumstände gegeben. Aufeinander abgestimmt, erzwangen die eigenen Bedürfnisse und die begrenzten Ressourcen einen zyklischen Wechsel von Ruhe und Anstrengung. In den traditionalistischen, agrarischen Gesellschaften, in denen es schon Vorräte an Nahrung gibt und das Saatgut aufgespart werden muss, dürfen die Menschen nicht so kindlich bleiben. Sie müssen eine innere Hemmung entwickeln, um nicht das zu tun, was auf der steinzeitlichen Kulturstufe selbstverständlich ist: zu essen, was da ist, und dann weiterzusehen. Ein Bauer würde dadurch sein Saatgut, ein Hirte seine Herde gefährden.

      „Das Ohr des Schülers sitzt auf seinem Rücken. Er hört nur, wenn man ihn schlägt“, lautet ein altägyptischer Text. „Zerschlage seine Rippen, solange er noch klein ist“, heißt die verwandte Botschaft der Bibel (im Buch Jesus Sirach). Äußere Drohungen sind notwendig, um eine nicht mehr durch die eigenen Bedürfnisse, sondern durch agrarisch-feudale Zwänge motivierte Arbeitsleistung zu erbringen. Der Jäger und Sammler muss keine inneren Konsumbarrieren haben, weil er auch kein Saatgetreide hat, das er nicht aufessen darf. Deshalb ließen sich Jäger und Sammler auch so selten als Plantagenarbeiter verwenden. Sie starben unter den Arbeitszwängen oder ergriffen die Flucht in den Busch. An ihrer Stelle wurden die bereits agrarisch geprägten Afrikaner in die Neue Welt eingeführt (Lévi-Strauss 1958).

      Die Institutionen der Jäger und Sammler sind einfach, flexibel und dynamisch. Es gibt keine schriftlichen Aufzeichnungen, aber viele Geschichten, die helfen, den Kindern die Umwelt zu erklären und die komplexen territorialen Verhältnisse zu ordnen, die eher auf ein harmonisches Ineinandergreifen unterschiedlicher Clans (Sippen) hinauslaufen als auf die Verteidigung eines abgegrenzten Gebiets. Es gibt keine großen sozialen Organisationen, einfach deshalb, weil große Gruppen nur kurze Zeit an Orten versammelt werden können, wo es viel Nahrung gibt, und wieder zerfallen müssen, sobald die Ressourcen dort erschöpft sind. Flexible, kleine Gruppen und eine flexible Verteilung der Aufgaben werden den Bedürfnissen dieser Kulturstufe am ehesten gerecht. Es gibt Männer, die Jagdzüge anführen, es gibt besonders angesehene, erfahrene, intelligente Frauen, aber es gibt keinen Häuptling, der mehr Macht hat, als sie ihm die flüchtige Zustimmung von Verwandten und Freunden zubilligt, welche jederzeit aus dieser Gruppe in eine andere Gruppe wechseln können, zu anderen Jagdführern.

       Die Geburt der Hierarchie

      In der sogenannten „neolithischen Revolution“ wurden die schweifenden Jäger und Sammlerinnen sesshaft. Dieser Prozess begann in den fruchtbaren Flusstälern Afrikas und Asiens – am Nil, am Euphrat und Tigris, am Indus, Ganges und Yangtsekiang. Er dauerte einige Jahrtausende und veränderte bis heute das Gesicht der Erde, ebenso wie die industrielle Revolution, in der die moderne Gesellschaft entstand. Beiden Veränderungen ist auch gemeinsam, dass sie die Kulturen an den Rand drängten, die nicht an ihnen teilhaben konnten.

      Ackerbau und Viehzucht verändern die Gesellschaft stark. Während den Jägern und Sammlern Grundbesitz bedeutungslos ist, wird er dem Ackerbauern unendlich wichtig und eine Quelle von Streit, der wiederum nach Institutionen verlangt, ihn zu schlichten. Die wirtschaftlichen Rituale der Jäger und Sammlerinnen sind vor allem Rituale des Teilens – Schwangere und Kinder werden bevorzugt, Verwandte müssen bedacht werden, wer den Pfeil geliehen, die Spitze geschärft, die Beute zuerst gesehen hat, bekommt seinen Anteil.

      Die ökonomischen Rituale der Ackerbauern betreffen vor allem die Abgrenzung und sehr bald die Hierarchie: Wer ein Stück Land besitzt und bebaut, ist frei und sein eigener Herr. Wer kein Land besitzt, ist unfrei und muss für einen Herrn arbeiten. Für den Hirten sind Herde und Weiderecht, was dem Ackerbauern das Feld ist. Damit geraten auch große gesellschaftliche Gruppen in aggressive Auseinandersetzungen, die zuvor nicht denkbar waren. Die älteste davon ist der Streit zwischen Kain und Abel, zwischen dem Ackerbauern und dem Hirten. Es ging hier ursprünglich nicht um das göttliche Wohlgefallen für den einen oder den anderen (die Bibel wurzelt in den Überlieferungen von Hirten-Nomaden), sondern um eine ökonomische Auseinandersetzung. Wenn eine Herde seine Felder kahl frisst, ist der Bauern vom Hunger bedroht und wird sich mit allen Mitteln wehren.

      Die feste Zuordnung von Land spiegelte sich in der sozialen Organisation. Es musste eine feste, autoritäre Struktur geben, die die Besitzverhältnisse regelte und verteidigte. Kleine, weit verstreute Gruppen von Ackerbauern konnten noch, wie etwa die isländischen Siedler, mit einer relativ einfachen Struktur auskommen, in der es freie Bauern und leibeigene Knechte gab. Die Bauern regelten alle Streitigkeiten auf der gemeinsamen Versammlung, dem Thing; wer gegen das Thing verstieß, wurde geächtet, d. h. er wurde rechtlos und konnte von jedem getötet werden.

      In dichter besiedelten Gebieten, vor allem in denen, wo künstliche Bewässerung eine genaue Verteilung nicht nur

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