Im Bauch des Wals. Annemarie Bauer

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Im Bauch des Wals - Annemarie Bauer

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Jagdzügen zu den Frauen heimzukehren und mit ihnen die Beute zu teilen.

      So entstanden auch die Mächte der Erinnerung, die so eng mit Poesie und bildender Kunst verwandt sind: als das Verlangen der Männer, von ihren Streifzügen zurückzukehren, weil sie sich ihrer Frauen erinnerten.1

      In den kleinen Gruppen der Primaten des Tier-Mensch-Übergangsfeldes herrschte eine intensive genetische Auslese, die mit der Entwicklung der Sprache und damit der kulturellen Tradition durch eine Auslese symbolischer Strukturen ergänzt und überformt wurde: Die menschliche Paarbindung ist nicht genetisch bedingt und nicht erworben, sondern beides.

      Zu den zentralen Qualitäten des kindlichen Befindens gehört die Überzeugung, alleine nicht überleben zu können. Sie ist die Quelle der tiefen, irrationalen Abhängigkeit im menschlichen Leben. Wenn ein Kind auf der Straße nach seiner verlorenen Mutter schreit, beruhigt es sich sofort, wenn diese zurückkommt. Die Mutter mag eine Sadistin sein, die das Kind prügelt, sobald sie es sieht, aber dennoch zieht das Kind sie der freundlichen Passantin vor, die es gerne mit nach Hause nehmen und päppeln würde. Diese Qualität wird in unseren sexuellen Beziehungen geweckt, wenn wir ihnen den Charakter der Dauerhaftigkeit zuschreiben. Solange sie diese nicht haben, ist der Liebeskummer meist oberflächlich und wird schnell vergessen. Aber die drohende Auflösung einer Ehe weckt Ängste, kindliches Klammern oder Reaktionsbildungen (wie wütende Distanzierung, Zerstörung des Liebespartners).

       Triebkontrolle zu zweit

      Die tiefe Verankerung der Bezogenheit auf das Liebesobjekt befähigt den Menschen zu großartigen Leistungen für seinesgleichen; sie führt dazu, dass er fähig wird, in seinem eigenen Handeln immer einen anderen mitzudenken. Sie macht ihn zu Vater und Mutter, zur Priesterin und zum Staatsmann. Aber die Tatsache, dass diese Bezogenheit aus dem Material kindlicher Abhängigkeit geschmiedet ist, kann auch dazu führen, dass in Krisen eine destruktive Wut wiederkehrt, mit der früher das kleine Kind den Eltern einimpfen wollte, dass Verlassenheit unerträglich ist. Nach „normalen“ Trennungsschmerzen kann das Kind die Eltern wieder annehmen; nach traumatischen Trennungen gelingt das nicht – der Säugling, der stundenlang schreien musste, verweigert die Brust; das verletzte Kind, das im Krankenhaus eine Notoperation durchlitt, dreht das Gesicht zur Wand, wenn die alarmierte Mutter erscheint. Kleine Trennungen festigen die Bindung, große Trennungen stören, traumatische Trennungen vernichten sie.

      Die sexuellen Triebe sind so mächtig, dass ihre Stärke jeden Menschen – Kinder wie Erwachsene, Männer wie Frauen – bedroht. Das von Natur und Kultur gleichermaßen vorgesehene Gegenmittel ist ein einfühlender Partner. Ihn braucht das Kind ebenso wie der Erwachsene, um seine Libido zu regulieren. Mit seiner Hilfe kann es gelingen, diese Energie zu bändigen; ohne ihn greift das Trauma um sich; es fasst nach dem „nur“ vereinsamten Kind ebenso wie nach dem missbrauchten, das einem Erwachsenen ausgeliefert ist, der sich – ebenfalls aus Mangel an von Empathie bestimmten sozialen Bezügen – an Geschöpfen vergreift, in die er seine eigenen Bedürfnisse projiziert.

      Den vieldeutigen Untersuchungen über anatomische Unterschiede im Zentralnervensystem von Männern und Frauen lassen sich bisher nur in populären Magazinen verhaltensnahe Aussagen abgewinnen. Das gesunde Gehirn funktioniert ganzheitlich; Rückschlüsse von neurologischen Störungen auf das normale Verhalten sind daher gerade aus physiologischer Sicht bedenklich. Im Gehirn wurden stammesgeschichtlich ältere Komponenten durch die Entwicklung der Großhirnrinde überformt; diese Situation ist bei Männern und Frauen identisch. Daher gehört ein beträchtliches Maß an psychologischer Ignoranz dazu, von anatomischen Unterschieden im Althirn naiv auf genetisch angelegte Unterschiede im Verhalten zu schließen; das ist ungefähr so wissenschaftlich, wie zu behaupten, dass ein aus Stahl gefertigter Motor anders arbeitet als einer aus Aluminium. Natürlich ist Stahl etwas anderes als Aluminium, und der Metallurg kann dem Konstrukteur wertvolle Hinweise geben. Aber kein Metallurg wäre so dreist, zu behaupten, dass er durch seine Erkenntnisse über das Aluminium gänzlich neue Gesichtspunkte über Explosionsmotoren gewonnen hat.

      Kein Zweifel kann hingegen daran bestehen, dass Männer und Frauen in ihren sexuellen Funktionen sehr unterschiedlich sind. Die bisher gültigste Konzeption der Geschlechtsunterschiede basiert auf der seelischen Verarbeitung dieser Situation.

      Das männliche Kind beobachtet an der Schwelle zu seiner geistigen Verselbstständigung, dass es anders ist als die Mutter und dass es nie so werden wird wie sie. Es entdeckt, dass es die Mutter nicht kontrollieren und nicht befriedigen kann; wenn die Mutter unglücklich ist, braucht sie einen Mann, keinen Knaben; wenn sie die Illusion aufbaut, sie könne auch ohne Mann dem Knaben alles geben, was er braucht, verführt sie den Sohn zur Größenfantasie, die er später nur schwer wird ablegen können.

       Der Naturmensch als Konzept einer fortgeschrittenen Kultur

      Der Gedanke, dass es möglich sei, den Menschen der Kultur gegenüberzustellen, ist ein Kind der Aufklärung. Erst als die menschliche Vernunft sich sozusagen selbst entdeckte, gelang es ihr auch, von einer Tradition Abschied zu nehmen, in der ein „guter“ Mensch der ist, der den Normen der Kultur folgt. Zuvor gab es keine Möglichkeit, die Normen der Kultur infrage zu stellen; sie verstanden sich von selbst.

      Die Entwicklung einer autonomen Vernunft hängt mit der Naturwissenschaft zusammen; eine ihrer Schlüsselsituationen ist der Prozess von Galilei: Darf ein Forscher behaupten, was der herrschenden Kultur widerspricht, weil er vernünftige Beweise dafür hat?

      Nach anfänglichen Niederlagen hat die Wissenschaft hier den Sieg davongetragen – keineswegs endgültig, denn in vielen einst aufgeklärten Staaten sind inzwischen Fundamentalisten auf dem Vormarsch, die beispielsweise die Evolutionstheorie am liebsten verbieten oder so umformen wollen, dass nur ihre Feinde vom Affen abstammen, sie selbst jedoch von Gott geschaffen wurden.

      Die wissenschaftliche Betrachtung erfasst nur eine Wechselwirkung von Kultur und Mensch. Sie stellt Fragen, die in eine ganz andere Richtung gehen als die der klassischen Religionen. Freud sucht in einigen seiner kulturtheoretischen Arbeiten nicht mehr nach einer Antwort auf die Frage, wie der gute Mensch beschaffen sei, sondern ob die Kulturforderungen selbst nicht dafür verantwortlich sind, dass so viele Menschen sich schlecht fühlen und unter Umständen auch schlecht handeln.

      Die formende Kraft der Zweierbeziehung wird hier ganz neu gesehen: Ihr Auftrag ist es, dem Kind die ersten Ansätze der Kultur nahezubringen; im späteren Leben bildet sie den wichtigsten Kitt, um unterschiedliche Kulturen zu verbinden und aus ihnen etwas Neues zu schaffen. In der mobilen Gesellschaft gibt es viele Konfliktpotenziale, die daher rühren, dass Männer und Frauen mit ganz unterschiedlichem familiären Hintergrund versuchen, zusammenzukommen und zusammenzubleiben. Aber wo diese Konflikte überwunden werden, entsteht auch das spezifisch moderne, weltoffene, aufgeschlossene Bewusstsein, das Toleranz nicht nur predigt, solange es zu schwach ist, das eigene Glaubensmonopol durchzusetzen.

       Die ältesten Institutionen

      Eine fremde Kultur ist anders. Das steht schon in den ersten Berichten, die es überhaupt gibt, etwa in den Historien des Herodot, eines jonischen Griechen, der im vierten Jahrhundert vor Christus reiste. Er erzählt eine lehrreiche Geschichte, die man als Urszene des Kulturvergleichs ansehen kann.

      Der persische Großkönig wollte herausfinden, ob es ein „richtiges“ menschliches Verhalten für den Umgang mit Verstorbenen gibt. Er ließ deshalb Vertreter zweier Völker seines Riesenreiches vor sich treten – die Griechen, welche ihre Toten verbrennen, und einen asiatischen Stamm, bei dem es Sitte war, die Verstorbenen

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