Im Bauch des Wals. Annemarie Bauer

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Im Bauch des Wals - Annemarie Bauer

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macht, der dann so schnell wie möglich nach außen abgeführt werden muss.

      Frau A. kommt abends erschöpft von einem langen Arbeitstag nach Hause. Ihre erwachsene Tochter B. hat vor einigen Wochen das Abitur bestanden und geht jetzt die Zeit bis zum Beginn des Studiums fast jede Nacht tanzen. Sie schläft dann lange, steht irgendwann auf, kocht sich eine kleine Mahlzeit und ist schon wieder mit ihren Freundinnen unterwegs, sobald die Mutter nach Hause kommt. Der Vater ist vor fünf Jahren ausgezogen und inzwischen mit einer jüngeren Frau verheiratet.

      An diesem Tag spürt die Mutter, wie angesichts des abgegessenen Tellers und des mit Speiseresten verklebten Topfes in der unaufgeräumten Küche die Wut in ihr hochsteigt. Sie arbeitet den ganzen Tag, um für die Familie Geld heranzuschaffen; die Tochter tut keinen Strich und verlangt von der Mutter auch noch, ihren Dreck wegzuräumen. Das soll der Dank sein? Das soll gerecht sein?

      Die Mutter hat die Fantasie, den ganzen Dreck zu nehmen, und ihn der Tochter aufs Bett zu schmeißen: dann muss diese, wenn sie nach Hause kommt, auch einen Saustall aufräumen, das ist nur gerecht. Oder soll sie die Tür abschließen, damit das Schwein nicht hereinkommt und wieder die Wohnung verdreckt? Dann wird die Tochter klingeln, es wird eine Szene geben, die Nachbarn … Soll sie versuchen, die Tochter über das Handy zu erreichen und sie zur Rede zu stellen?

      Frau A. ist eine durchschnittlich gute Mutter; seit ihrer Scheidung leidet sie manchmal an Depressionen und bricht Männerbeziehungen ab, sobald sie den Verdacht schöpft, wieder an jemanden geraten zu sein, der sie ausnützt. Sie war ein sehr braves Kind, das den durch ein Flüchtlingsschicksal belasteten Eltern keine Probleme machte und es daher oft ungerecht findet, manchmal aber auch stolz darauf ist, dass ihre Tochter ganz anders ist – anspruchsvoller, erfolgreicher bei Männern.

      In der beschriebenen Situation wird der Wutanfall dadurch ausgelöst, dass die Mutter aufhört, auf die Tochter stolz zu sein. Der Stolz auf etwas ist ein Ausdruck davon, dass ich eine Fantasie zur Stützung meiner Grandiosität verwerten kann – ich bin stolz, ein Deutscher, ein Mann, ein guter Vater, ein erfolgreicher Kaufmann zu sein, ich bin stolz auf wohlgeratene Kinder.

      Je schneller die Kränkungswut abgeführt werden muss, desto größer ist auch die Gefahr einer kannibalischen Entwicklung. In dieser führt die narzisstische Krise zu Folgen, die ihre Auslöser vermehren. Die Wut über das Versagen der Zufuhr vermindert die Zufuhr. Wenn die Mutter sofort ihre Tochter entwertet, sei es durch eine kränkende Aktion, sei es durch eine Kontaktaufnahme im Zustand der ungebremsten Wut, wächst die Gefahr, dass auch die Tochter zurückschlägt.

      Ebenso problematisch ist es, gar nicht zu reagieren, das Geschirr zu spülen und die Wut unbewusst zu machen. So entstehen schwere, aus ihren Auslösern nicht mehr verstehbare Depressionen. Der überlastete Organismus kann die Störung der Kränkungsverarbeitung irgendwann nicht mehr kompensieren, die Produktion von körpereigenen Botenstoffen wird beeinträchtigt, die Schädigung greift in das Übergangsfeld von Psyche und Soma hinein.

      Da Frau A. eine durchschnittlich gute Kränkungsverarbeitung hat und nicht an einem Borderline-Syndrom leidet, tut sie nichts von dem, was ihr die erste Wut eingegeben hat. Ihr fällt ein, dass B. durchaus abspült, wenn man es mit ihr vereinbart. Der Stolz auf ihre Tochter kehrt zurück, es ist doch ein gutes Kind, von dem sie es vernünftigerweise nicht erwarten kann, sich in den Stress und die Ordnungsbedürfnisse der Mutter einzufühlen.

      B., überlegt die Mutter nun, sollte es doch auch schön haben als Kind, schöner als sie mit ihren Eltern, die sich ständig irgendwelche Sorgen machten. Jetzt ist B. eine Person geworden, die unbekümmert das tut, worauf sie Lust hat. Aber es ist auch wahr, dass sie keineswegs die Mutter dadurch kränken will. Sie ist nur anders geworden, als es A. ist. „Ich werde mit ihr eine Diskussion führen, einen Vertrag machen über die Küchenordnung in Ferienzeiten, so wie schon einer über das Ausgehen während der Schultage und am Wochenende an die Innenseite der Küchenschranktür geklebt ist.“

       Vom Paar zur Gruppe

      Die primäre soziale Verbindung bei Primaten ist das Paar – ursprünglich das Paar Mutter-Kind. Durch die lange, verletzliche Kindheit gibt es eine von starken Gefühlen getragene Beziehung zwischen dem kindlichen Organismus und einem vertrauten Erwachsenen, in der Regel der biologischen Mutter. Dieses Beziehungsmodell bleibt auch im Erwachsenen erhalten: Wie die oben beschriebene Szene zeigt, reagiert die Mutter mit durchaus kindlichen Gefühlen der Zurückweisung, der Kränkung, des Unverstandenseins. Indem sich die Mutter an ihre eigene kindliche Abhängigkeit und Angst erinnert, kann sie das Kind trösten und ihm über seine Krisen hinweghelfen. Auf diesem Weg wird das Selbstgefühl gesunder Menschen gefestigt: Sie fühlen sich in andere ein und bestätigen sie. Dadurch werden sie sicherer, dass ihnen Gleiches mit Gleichem vergolten wird.

      Eine weitere Qualität der Paarbeziehung ist die Spiegelung. Eine Paarbindung ist die symmetrischste Form des Kontaktes, die es gibt, und von allen symmetrischen Beziehungen ist die zum eigenen Spiegelbild am symmetrischsten. Das ist vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil alles Fremde von uns mit primär gemischten Gefühlen betrachtet wird: Es weckt Neugier und Angst zugleich. Dabei ist die Neugier umso stärker, je vertrauter uns der Rest der Umgebung, und die Angst umso ausgeprägter, je weniger wir mit dem Rest der Umgebung vertraut sind; dann überfordern uns neue Reize sehr schnell. Wenn ein neues Spielzeug im vertrauten Kinderzimmer steht, weckt es Neugier; wenn wir im nächtlichen Wald ein merkwürdiges Geräusch hören, wollen wir es nicht erforschen, sondern fürchten uns.

      Die Beziehung zum eigenen Spiegelbild schafft Vertrauen in die Kontinuität des eigenen Ichs. Ähnlich beschaffen sind Beziehungen, die uns „spiegeln“, die wir zu Menschen aufbauen, von denen wir glauben, dass sie ganz genau so sind, wie wir sie uns wünschen, und sich so wenig verändern wie unser eigenes Spiegelbild. Vor allem für traumatisierte Menschen, die wenig Neugier entwickeln können und darauf angewiesen sind, dass sie ihre Umwelt kontrollieren, sind solche Selbst-Objekte sehr wichtig. Entsprechend groß ist ihre seelische Not, wenn sie feststellen müssen, dass sich eine solche Beziehung verändert.

      So wundern sich viele Frauen darüber, dass ihr Partner sie kaum zu registrieren scheint, wenn sie den Abend mit ihm zusammen verbringen. Er sieht fern, liest Zeitung, sagt kein Wort. Sobald sie aber Anstalten macht, die Wohnung zu verlassen, um eine gesprächigere Freundin zu besuchen oder ins Kino zu gehen, reagiert der Partner unerwartet heftig und fordert den gemütlichen Abend zu zweit ein. Hier wird der Selbstobjekt- und Spiegelcharakter einer Beziehung deutlich: Wichtig ist nicht die Interaktion – die ist schließlich mit unserem Spiegelbild ebenfalls nicht möglich – sondern die Präsenz.

      Diese Qualität des Spiegelbildes ist übrigens in der Volkssage fassbar. Demnach erkennt man menschenähnliche Unholde wie z. B. Vampire daran, dass sie in einem Spiegel kein Bild erzeugen. Vampire haben kein Spiegelbild und können daher auch nicht „spiegeln“, d. h. bestätigen, anerkennen.

       Das Dreieck

      Die Paarbeziehung ist im guten Fall die harmonischste, gleichgewichtigste, überschaubarste Beziehung. In ihr kann sich eine verletzte Psyche erholen, in ihr werden Möglichkeiten des Erlebens – auch der Erotik – freigesetzt, die sich in keiner anderen Konstellation derart entfalten. Sowohl aus der Einsamkeit heraus wie auch aus der Gruppe – etwa einer Schulklasse – heraus sehnen sich Menschen nach einem besten Freund, einem Seelenzwilling, einem Menschen, mit dem sie Erlebnisse teilen können. Nur eine so besetzte Beziehung bewahrt uns vor einem Gefühl der Einsamkeit, das nicht nur den Einzelgänger, sondern auch den Menschen in einer Clique oder in einem Betrieb befallen kann.

      Seelische Reife entsteht nicht dadurch, dass Menschen ihre früheren – etwa kindlichen

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