Die Forsyte Saga. John Galsworthy
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Liebe Grüße
dein dich liebender Vater
Jolyon Forsyte
Und jedes Jahr am ersten Januar zahlte er hundert Pfund und die Zinsen dazu. Die Summe wurde immer beträchtlicher – nächstes Neujahr würden es fünfzehnhundert Pfund und noch was sein! Und es lässt sich kaum sagen, wie viel Zufriedenheit ihm diese jährliche Einzahlung gegeben hatte. Doch der Briefkontakt hatte geendet.
Trotz seiner Liebe zu seinem Sohn, trotz eines gewissen Instinkts, der teilweise angeboren war, teilweise, wie bei tausenden anderen seiner Klasse, das Ergebnis ständigen Abwickelns und Beobachtens von Geschäften und durch den er Verhalten eher anhand von Resultaten als anhand von Prinzipien beurteilte, empfand er tief in seinem Herzen eine Art Unbehagen. Sein Sohn hätte unter den gegebenen Umständen vor die Hunde gehen müssen. Dieses Gesetz war in all den Romanen, in all den Predigten und in all den Dramen, die er jemals gelesen, gehört oder gesehen hatte, festgelegt.
Irgendetwas fühlte sich irgendwie falsch für ihn an, als er den Scheck zurückerhielt. Warum war sein Sohn nicht vor die Hunde gegangen? Andererseits, wer konnte das schon sagen?
Er hatte natürlich gehört – um genau zu sein, hatte er sich persönlich bemüht, dies herauszufinden -, dass Jo in St. John’s Wood wohnte, dass er ein kleines Häuschen mit Garten in der Wistaria Avenue hatte und seine Frau mit zu gesellschaftlichen Anlässen nahm – zweifelsohne in seltsamen gesellschaftlichen Kreisen. Und dass sie zwei Kinder hatten – den kleinen Jungen, den sie Jolly nannten (in Anbetracht der eher weniger heiteren Umstände erschien ihm dieser Name zynisch, und der alte Jolyon fürchtete und verabscheute Zynismus), und ein Mädchen namens Holly, das nach der Heirat geboren worden war. Wer konnte schon sagen, wie die Verhältnisse seines Sohnes wirklich waren? Er hatte die Einkunft, die er von seinem Großvater mütterlicherseits geerbt hatte, in Kapital umgewandelt und bei Lloyd’s als Versicherungsgeber angefangen. Außerdem malte er auch – Aquarelle. Der alte Jolyon wusste das, weil er sich hin und wieder heimlich eines seiner Bilder gekauft hatte, nachdem er zufällig seinen Namen unten auf einem Bild der Themse in einem Schaufenster entdeckt hatte. Er bewahrte sie in einer Schublade verschlossen auf.
In dem großen Opernhaus überkam ihn eine schreckliche Sehnsucht, seinen Sohn zu sehen. Er erinnerte sich an die Zeiten, als er ihn immer in seinem braunen Leinenanzug unter seinen Beinen vor und zurück rutschen hatte lassen, die Zeiten, als er neben dem Pony des Jungen hergelaufen war und ihm das Reiten beigebracht hatte, den Tag, an dem er ihn zum ersten Mal in die Schule gebracht hatte. Er war ein liebevoller, liebenswerter kleiner Kerl gewesen! Als er dann nach Eton ging, hatte er vielleicht etwas zu viel von dieser erstrebenswerten Art übernommen, die man, wie der alte Jolyon wusste, nur an solchen Orten und nur zu einem hohen Preis bekommen konnte. Aber er war immer ein angenehmer Zeitgenosse gewesen, immer ein guter Kamerad, selbst nach Cambridge – vielleicht ein wenig abgehoben aufgrund der Vorteile, die er genossen hatte. Was seine Meinung zu den Privatschulen und Unis des Landes anging, war der alte Jolyon niemals ins Schwanken geraten. Er hielt rührend an seiner bewundernden und zugleich misstrauischen Haltung gegenüber einem System fest, das für die Elite des Landes gemacht war und zu dessen Privilegierten er selbst nicht gehört hatte … Nun, wo June weggefahren war und ihn verlassen hatte ‒ oder so gut wie verlassen ‒ wäre es tröstlich gewesen, seinen Sohn wiederzusehen. Voller Schuldgefühl wegen dieses Verrats an seiner Familie, seinen Prinzipien, seiner Klasse richtete der alte Jolyon seinen Blick auf den Sänger. Ein erbärmliches Etwas – ein elendes erbärmliches Etwas! Und der Florestan war zum Einschlafen!
Die Oper war zu Ende. Die waren ja heutzutage leicht zufriedenzustellen!
Im Gedränge der Straße schnappte er einem korpulenten und sehr viel jüngeren Mann eine Droschke, die dieser bereits als seine betrachtete, direkt vor der Nase weg. Sein Weg führte durch die Pall Mall, und statt dann durch den Green Park weiterzufahren, bog sein Fahrer an der Ecke in die St. James’s Street ab.
Der alte Jolyon streckte seine Hand durch die Klappe (Umwege konnte er nicht ausstehen), doch dann sah er beim Abbiegen ihnen gegenüber das Hotch Potch, und die Sehnsucht, die er den ganzen Abend still in sich getragen hatte, siegte. Er befahl dem Kutscher zu stoppen. Er wollte hineingehen und fragen, ob Jo noch immer Mitglied sei.
Er ging hinein. Die Halle sah noch genauso aus wie damals, als er immer mit Jack Herring dort gegessen hatte; sie hatten den besten Koch in ganz London. Er sah sich mit diesem scharfsinnigen, direkten Blick um, dank dessen er schon immer besser bedient wurde als die meisten anderen Männer.
»Ist Mr Jolyon Forsyte noch Mitglied hier?«
»Ja, Sir. Er ist gerade im Klub, Sir. Ihr Name?«
Der alte Jolyon war überrascht. »Ich bin sein Vater«, antwortete er. Dann stellte er sich mit dem Rücken zum Kamin.
Der junge Jolyon hatte seinen Hut aufgesetzt und wollte gerade den Klub verlassen, als er beim Durchqueren der Halle dem Portier begegnete. Er war nicht mehr jung, sein Haar wurde schon grau und auf seinem Gesicht – das Ebenbild seines Vaters in schmal, mit dem gleichen großen, weit herabhängenden Schnurrbart – hatte das Leben deutlich seine Spuren hinterlassen. Er wurde blass. Diese Begegnung war schrecklich nach all den Jahren, denn nichts auf der Welt war so schlimm wie eine Szene. Sie standen voreinander und gaben sich wortlos die Hand. Dann sagte sein Vater mit einem Zittern in der Stimme: »Wie geht es dir, Junge?«
Der Sohn antwortete: »Wie geht es dir, Papa?«
Die Hand des alten Jolyon zitterte in dem dünnen, lavendelblauen Handschuh.
»Wenn du in meine Richtung musst, kann ich dich mitnehmen.«
Und als ob sie den anderen jeden Abend nach Hause brächten, gingen sie hinaus und stiegen in die Droschke.
Dem alten Jolyon kam es vor, als sei sein Sohn gewachsen. »Irgendwie mehr ein richtiger Mann«, bemerkte er für sich. Über das von Natur aus liebenswürdige Gesicht seines Sohnes hatte sich eine zynische Maske gelegt, als ob er das Gefühl gehabt hätte, die Umstände seines Lebens bedürfen einer Rüstung. Seine Züge waren ohne Zweifel die eines Forsyte, doch sein Gesichtsausdruck war eher so nach innen gekehrt wie der eines Studenten oder Philosophen. Er hatte sich mit Sicherheit gezwungenermaßen sehr viel mit seinem Innenleben beschäftigen müssen während jener fünfzehn Jahre.
Für den jungen Jolyon war der Anblick seines Vaters im ersten Moment zweifelsohne ein Schock gewesen – er sah so alt und erschöpft aus. Doch als sie dann in der Droschke saßen, kam es ihm so vor, als habe er sich kaum verändert. Er hatte noch immer diesen ruhigen Blick, an den er sich so gut erinnerte, noch immer scharfe Augen und eine aufrechte Haltung.
»Du siehst gut aus, Papa.«
»Ach, es geht so«, antwortete der alte Jolyon.
Ihn quälte eine Sorge, die er meinte, aussprechen zu müssen. Jetzt, wo er seinen Sohn so wiederbekommen hatte, hatte er das Gefühl, ihn nach seiner finanziellen Lage fragen zu müssen.
»Jo«, sagte er, »ich wüsste gern, wie deine Situation ist. Ich nehme an, du hast Schulden?«
Er formulierte es so, um es seinem Sohn leichter zu machen, es zuzugeben. Der junge Jolyon antwortete mit seiner ironisch klingenden Stimme: »Nein! Ich habe keine Schulden!«
Der alte Jolyon merkte, dass er verärgert war, und berührte seine Hand. Das Risiko war er eingegangen. Dennoch hatte es sich gelohnt, und Jo war ihm noch nie lange böse gewesen. Sie fuhren weiter bis Stanhope Gate, ohne dass einer der beiden noch etwas sagte. Der alte Jolyon lud ihn ein, mit hineinzukommen, aber der junge