Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen. Manfred Vogt

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Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen - Manfred Vogt Störungen systemisch behandeln

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       Sprache in der systemischen Therapie und im Buch

      »Störungen systemisch behandeln« bedeutet nicht, ein pathologieausgerichtetes Sprachverständnis in der Systemischen Therapie zu reanimieren, wie wir es aus der frühen Familientherapie kennen. Es war gerade ein Verdienst der frühen systemischen Konzepte, neue therapeutische Sprachspiele zu generieren, die zu einem paradigmatischen Wechsel hin zu einer ressourcenfokussierten Psychotherapie führten, in der der klinische Störungsbegriff in den Hintergrund trat. Symptombilder und klinisch-diagnostische Kategorien zu meiden, war bei vielen Praktikern identitätsstiftende Tradition innerhalb der Systemischen Therapie. Im psychotherapeutischen Alltag können wir klinisch behandlungswürdige psychische Anpassungsreaktionen jedoch auch nicht ignorieren. Und das Sprechen zu vermeiden, macht sie nicht besser.

      In unserer Praxis verstehen wir »störungsspezifisches Wissen« als klinisches Erfahrungswissen und handlungsfeldbezogenes Praxiswissen. Dazu zählen sowohl das Wissen zu somatischen Erkrankungen als auch das Wissen zu Formen der Krankheitsbewältigung im Sinne einer emotionalen und kognitiven Verarbeitung der Krankheitsrealität, möglichen psychischen Anpassungsreaktionen und auch das Wissen um eine optimale Organisation des Krankheitsmanagements. Wir stellen folglich medizinische Therapien, psychotherapeutische Interventionen in den unterschiedlichen Krankheits- und Therapiephasen dar.

      In unserem Grundverständnis Systemischer Therapie beziehen wir uns auf das Konzept der Salutogenese (Antonovsky 1993, 1997). Wenn wir von psychischen Anpassungsreaktionen und Verhaltensauffälligkeiten in der Folge chronischer körperlicher Erkrankungen sprechen, tun wir das im Sinne des Konzepts der »eingeschränkten Wahlmöglichkeiten« (Isebaert 2005) – der »anderen Seite der Gesundheit« (Simon 2012).

       Gliederung

      Am Beginn des ersten Teils dieses Buches stehen Überlegungen zur Perspektive der Zeit in ihrer Chronizität. Sodann wird der Fokus auf das medizinisch-klinische und psychologische Wissen ausgerichtet. Ausgewählte klinische Krankheitsbilder werden sowohl auf somatischer und medizinischer Ebene als auch mit den jeweils einhergehenden psychischen Belastungen, Folgen und Beeinträchtigungen für die Betroffenen und ihre Familien dargestellt. Im Anschluss wenden wir uns den relevanten, die psychosoziale Versorgung mitbestimmenden Rahmenbedingungen zu und fassen die Besonderheiten und Anforderungen an psychotherapeutische Interventionen bei der Behandlung psychischer Anpassungsreaktionen bei chronischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter zusammen. Dieser erste Teil des Buches erläutert also typische Krankheitsbilder und deren Verläufe sowie die damit einhergehenden Belastungen für die Klienten und die Herausforderungen für die ambulante und klinische psychotherapeutische Praxis.

      Im zweiten Teil werden die zu bestimmten Zeitpunkten der Erkrankung notwendigen und nützlichen Interventionen skizziert. Um systemisch-lösungsfokussierte Interventionen in den Kontext bestehender Therapieschulen einordnen zu können, beginnen wir diesen Teil mit der Betrachtung des Themas chronischer Erkrankungen bei Kindern und Jugendlichen aus der Sicht der relevanten Therapieverfahren und deren Zugangsweisen. Darauf folgen die Perspektiven und Handlungsmöglichkeiten von Psychotherapie unter besonderer Berücksichtigung einer systemisch-lösungsfokussierten Perspektive bei chronischen Erkrankungen aus verschiedenen konzeptionellen Blickwinkeln. Dazu skizzieren wir einen theoretischen, einen konzeptionellen, einen strukturellen und einen methodischen Arbeitsraum.

      Bei den psychischen Folgeerscheinungen chronischer körperlicher Erkrankungen gilt es zu berücksichtigen, dass im Gegensatz zur ambulanten systemisch-lösungsfokussierten Therapie beispielsweise aufgrund einer kindlichen Angststörung das Vorgehen im Krankheitsverlauf als zeitbedingte Intervention anzusehen ist. Aus diesem Grund stellen wir zu Beginn des dritten Teils des Buches unser Modell dynamischer Anpassungsleistungen an chronische körperliche Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter vor: Es bietet Praktikern einen Rahmen zur Reflexion, zu welchen Zeitpunkten im Krankheitsverlauf spezifische Interventionen nützlich sind und wie diese aufeinander bezogen werden können. Anhand von unterschiedlichen Fallbeispielen aus der ambulanten und stationären Praxis zeigen wir, wie Interventionen unter Bezug auf die Perspektive der Zeit in einem therapeutischpraktischen Vorgehen umgesetzt werden können. Wir berücksichtigen dabei sowohl ambulante psychotherapeutische Prozesse als auch psychologisch-therapeutische Begleitungen im stationären Kontext.

       Die Bedeutung der Zeit in der Therapie

       Die Zeit ist das umfassende Band aller Zusammenhänge.

      George Kelly (1955, dt. 1986)

      Der Begriff der chronischen körperlichen Erkrankung umfasst unterschiedliche Symptome und Krankheitsbilder, die durch ihren lang andauernden Verlauf und typische Erkrankungsphasen charakterisiert sind. Der Perspektive der Zeit kommt bei diesen Erkrankungen eine besondere Rolle zu: zum einen der Dauer einer Erkrankung, die sehr kurze, aber auch lange Lebenszeiträume und schließlich die gesamte Lebensspanne umfassen kann, zum anderen den unterschiedlichen Phasen im Verlauf.

       Abb. 1: Chronos und Kairos

      Die beiden Götter der Zeit, Chronos und Kairos (vgl. Abb. 1), versinnbildlichen zwei wesentliche zeitliche Dimensionen. Der griechische Gott Chronos steht für quantitativ gemessene Zeit: Er symbolisiert den Ablauf von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, womit lange Zeitspannen und auch überdauernde oder lebenslange gesundheitliche Einschränkungen begrifflich erfasst werden können. Sie werden dann als chronisch bezeichnet. Demgegenüber steht der Gott Kairos – als religiös-philosophischer Begriff – für eine andere Zeitdimension, nämlich den günstigen Zeitpunkt für eine Entscheidung oder Handlung, der nicht ungenutzt verstreichen sollte. Eine Gelegenheit beim Schopfe zu packen und zum entscheidenden Zeitpunkt zu handeln, kann im Zeitverlauf zu wichtigen Wendungen führen.

      Die Bedeutung des »Kairos« wird anhand eines therapeutischen Erstgesprächs auf einer onkologischen Station mit der Mutter eines zweijährigen Jungen wenige Tage nach der Befundmitteilung durch die Ärzte deutlich.

       Wann ist der »richtige Zeitpunkt«?

      Bei dem fast zweijährigen Martin wird ein Nierentumor diagnostiziert. Seine Mutter, Frau K., ist nach der Befundmitteilung geschockt und emotional überwältigt. Sie und ihr Mann ringen um Stabilität. Die schlimmen Vorstellungen zunächst verdrängend, fragt die Familie im Aufklärungsgespräch nach den nächsten Schritten. Ihnen wird mitgeteilt: Innerhalb der nächsten vier Wochen wird der Patient eine Chemotherapie erhalten, die den Tumor bis zur Operation verkleinern soll. Wenn diese erfolgreich ist, besteht eine geringe Hoffnung darauf, dass der Tumor vollständig entfernt werden kann und keine weitere Behandlung notwendig ist. Der Familie – so der Arzt – muss aber klar sein, dass dies angesichts der Größe des Tumors sehr unwahrscheinlich ist.

      Das Leben der Familie scheint zusammenzubrechen: Der anstehende Urlaub wird storniert, die Rückkehr in den Arbeitsalltag nach der Elternzeit erscheint angesichts der nun anstehenden Behandlung unmöglich. Zudem belasten die Sorgen, was schlimmstenfalls passieren könnte. Aufgrund ihrer hohen Nervosität und emotionalen Belastung kontaktiert die Mutter die Psychologin auf der Station, die sie bereits vom Aufklärungsgespräch kennt.

      Im Erstgespräch schildert Frau K. ihre Sorgen und Ängste, ihre Nöte und aktuellen Gedanken. Als Auftrag formuliert sie, dass sie nicht ständig

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