Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen. Manfred Vogt

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Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen - Manfred Vogt Störungen systemisch behandeln

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Oberarzt der Station mit folgenden Informationen an die Psychologin heran: Die Kindsmutter redet zunehmend weniger und will sich nicht mit den möglichen weiteren Behandlungsschritten nach der Operation auseinandersetzen. Dies ist nach Ansicht der Ärzte aber dringend notwendig, schließlich werden therapeutische Maßnahmen mit hoher Wahrscheinlichkeit nach der Operation umgehend weitergehen. Der Tumor ist einfach zu groß und eine komplette Entfernung aussichtslos.

      Im nächsten Gespräch versucht die Psychologin, den ärztlichen Auftrag umzusetzen und die Mutter behutsam auf die nachfolgenden Möglichkeiten vorzubereiten. Auf diese Konfrontation reagiert die Klientin jedoch ablehnend. Nach dem Gespräch verlässt Frau K. den Raum. Eine Woche später erscheint sie zum vereinbarten Termin und eröffnet das Gespräch mit folgender Frage: »Ist es eigentlich normal, dass es einem nach dem psychologischen Gespräch schlechter geht als vorher? Ich habe fast eine Woche gebraucht, um mich davon zu erholen. Ich glaube, ich möchte lieber auf unsere Gespräche verzichten!« Die Mutter beendet das therapeutische Angebot, und es finden lediglich kurze informelle Entlastungsgespräche statt. Die Mutter kommt spontan zur Psychologin vor, während und auch noch kurz nach der Operation. Die Gespräche haben unmittelbar entlastenden Charakter, ein bestimmter Therapieauftrag seitens der Klientin ist nicht fassbar. Vier Wochen später wird der Tumor ihres Sohnes komplett entfernt, eine weitere medizinische Behandlung mit Ausnahme von regelmäßigen Kontrolluntersuchungen ist nicht notwendig.

      Nach zwei Jahren trifft die Psychologin in der Klinikambulanz zufällig auf Frau K. Im Gespräch erzählt diese: »Wissen Sie, es wäre schon wichtig gewesen, mit Ihnen intensiver zu sprechen. Aber was Sie besprechen wollten, war für mich einfach nicht dran. Ich hätte zu diesem Zeitpunkt jemanden gebraucht, der mich ausschließlich stützt. Ich wusste ja noch nicht mal, wie ich die nächsten Wochen bis zur Operation des Tumors überstehen sollte. Mich mit allen möglichen Verläufen im Nachgang der Operation auseinanderzusetzen, war einfach unmöglich und hat mich völlig überfordert. Darüber hätten wir auch sprechen können, wenn es so weit gewesen wäre, oder? Ich mache mir heute, selbst zwei Jahre nach der Operation, immer noch Sorgen, dass die Erkrankung zurückkommen könnte. Ich glaube, heute wäre ich für so ein Gespräch wie damals weitaus offener und könnte damit auch mehr anfangen.«

      Dieses Fallbeispiel einer »gescheiterten« therapeutischen Begleitung zeigt wichtige Faktoren auf wie die Bedeutung der Auftragsklärung, das Einordnen von Widerstand als Schutzmechanismus und das Berücksichtigen des Kontextes (denn es gibt nicht nur unterschiedliche Aufträge, sondern vor allem auch unterschiedliche Auftraggeber) therapeutischer Interventionen. Es geht aber auch um den richtigen Zeitpunkt (Kairos) der Interventionen sowie um deren langfristige Verläufe (Chronos). Unter Beachtung systemisch-lösungsfokussierter Wirkprinzipien zeigt das Beispiel, dass selbst bei »gescheiterten« Verläufen die Klienten-Therapeuten-Beziehung positiv aufrechterhalten werden kann und sich jenseits bestimmter therapeutischer Ansätze ein pragmatisches Vorgehen empfiehlt.

      Die Dimensionen von Chronos und Kairos sind zentrale Eckpfeiler der Theorie und Praxis der psychotherapeutischen und psychosozialen Begleitung chronischer pädiatrischer Erkrankungen. Wird die Erlebniswelt der chronisch erkrankten Klienten und ihrer Angehörigen nachvollzogen (aber nicht nachempfunden), kann sich ein Hinweis darauf ergeben, wann welche Interventionen hilfreich sind (Schwarz u. Singer 2008). Dabei ist wichtig, was für den Patienten und seine Familie zu einem bestimmten Zeitpunkt im Fokus steht: die innerpsychische Verarbeitung, indem die objektive Krankheitsrealität durch kognitiv-emotionale Prozesse in eine erträgliche subjektive Realität überführt wird (Schaeffer 2009), oder der aktive Umgang mit den aktuellen Handlungserfordernissen, die sich aus der Erkrankung und Behandlung ergeben.

      In unserer systemisch-lösungsfokussierten Praxis kommt der Zeit eine große Bedeutung zu (Borst u. Hildenbrand 2012). Systemische Therapie kann sowohl als Langzeit- als auch als Kurzzeittherapie stattfinden und insofern den Chronos berücksichtigen. Auch der Kairos spielt eine zentrale Rolle in einer klassischen systemischen Therapiesitzung, wie sie unter anderem von Selvini Palazzoli et al. (2011) und in der systemisch-lösungsfokussierten Perspektive von de Shazer (1988) konzipiert ist: Therapeutische Gespräche werden in eine Explorationsphase und eine Interventionsphase unterteilt und durch eine Sitzungsunterbrechung – die sogenannte Denkpause – strukturiert. Dabei wird mit einem Interview begonnen und mit einer Handlungsempfehlung abgeschlossen. Der günstige Augenblick, Kairos, bestimmt, welcher Baustein zu welchem Zeitpunkt umgesetzt wird.

      In der Systemischen Therapie spielen bedeutsame Zeitpunkte einer »verstörenden« Intervention auch insofern eine wesentliche Rolle, als damit Bifurkationen, Instabilitäten oder Symmetriebrüche erzeugt werden, die zu Phasenübergängen in lebenden Systemen führen. Außerdem berücksichtigt die systemisch-lösungsfokussierte Therapie »richtige« Zeitpunkte, da sie keine bestimmte Reihenfolge therapeutischer Sitzungen festlegt. Es entspricht voll und ganz dem systemischen Denken, die Sitzungsfrequenz am Bedürfnis des Klienten zu orientieren. So wird beispielsweise der Klient befragt, wie lange er denkt, Beratung und Therapie in Anspruch nehmen zu müssen. Zudem können in Krisenzeiten häufiger Termine angeboten und in anderen Zeiten längere Pausen konzeptionell integriert werden. Hier deckt sich die systemisch-lösungsfokussierte Therapie mit unserer Idee des Begriffes einer psychosozialen Begleitung im Behandlungsverlauf.

       Chronos

      Dank des medizinischen Fortschritts und der verbesserten hygienischen Bedingungen ist die Mortalität von Kindern und Jugendlichen durch körperliche Erkrankungen in Deutschland während des letzten Jahrhunderts erheblich gesunken. Stand zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch die Bekämpfung von vergleichsweise hohen Fallzahlen und Mortalitätsrisiken von Infektionskrankheiten im Mittelpunkt des medizinischen Interesses, geht es heute vor allem um die Behandlung der sogenannten chronischen körperlichen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter, da diese kontinuierlich steigende Prävalenzen aufweisen (Schubert et al. 2004). In Abgrenzung zu akuten Erkrankungen sind chronische Erkrankungen lang anhaltend bzw. überdauernd – wobei der Terminus »chronische Erkrankung« gewissermaßen ein Regenschirmbegriff ist: Es können eine Vielzahl von medizinischen Krankheitsbildern, zum Beispiel chronische Erkrankungen aller Organsysteme, »Behinderungen« und psychische Erkrankungen, subsummiert werden (Schmidt u. Thyen 2008).

      Eine differenzierende und umfassende Definition ist aufgrund der zahlreichen unterschiedlichen pädiatrischen Krankheitsbilder und Verläufe schwierig. Als definitorische Eckpunkte gelten jedoch zum einen die lange Dauer der Erkrankung (mindestens drei bis zwölf Monate) und zum anderen die Intensität, welche durch Einschränkungen bei entwicklungstypischen Aktivitäten, durch das Ausmaß an medizinischer Versorgung oder durch eine potenzielle Lebenslimitierung bestimmt wird (Schmidt u. Thyen 2008). Der Anstieg chronischer Erkrankungen resultiert aus verbesserten Überlebenschancen von vormals als unheilbar geltenden Erkrankungen. Allerdings ist insbesondere bei Krankheiten aus dem atopischen Formenkreis (Erkrankungen, die auf eine allergische Reaktion zurückzuführen sind, wie Neurodermitis oder Asthma) zu beobachten, dass es in den vergangenen Jahrzehnten in allen Industrienationen einen großen Zuwachs gegeben hat (Kurz u. Riedler 2003). Inzwischen können multiple chronische Erkrankungen erfolgreich behandelt werden, sodass die Betroffenen eine gute Lebensqualität erreichen. Dennoch dürfen die maßgeblichen Auswirkungen einer chronischen Erkrankung auf die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen nicht vernachlässigt werden – sie stehen häufig im Fokus der psychosozialen Versorgung betroffener Familien (Warschburger 2000; Pinquart 2013).

      In einer bevölkerungsrepräsentativen Langzeitstudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland (KiGGS) wurden in über 17.000 Fällen Eltern zur Krankheitsgeschichte ihrer Kinder befragt. Eine Auswertung ergab, dass bei 38,0 % der Jungen und 39,4 % der Mädchen in den vergangenen zwölf Monaten mindestens eine chronische Erkrankung wie Heuschnupfen, Skoliose, Herzkrankheiten und Krampfanfälle vorgelegen hatte (Scheidt-Nave et al. 2007). Nur bei einem Teil der chronisch erkrankten Kinder und Jugendlichen (Jungen: 16,0 %, Mädchen: 11,4 %) berichteten die Eltern auch von einem speziellen Versorgungsbedarf. Diese Versorgung umfasst

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