Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen. Manfred Vogt

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Psych. Anpassungsreaktionen von Kindern und Jugendlichen bei chronischen körperlichen Erkrankungen - Manfred Vogt Störungen systemisch behandeln

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Überdies beeinflussen lebensgeschichtliche Ereignisse und Belastungen die Persönlichkeit des erkrankten Kindes (Alter und Entwicklung, kognitive und psychosoziale Kompetenzen, Geschlecht, Bewältigungsfertigkeiten etc.), die soziale Umwelt sowie die familiäre Anpassung die Adaption des Kindes (Steinhausen 1996).

      Dieser Komplexität der Bewältigung chronischer körperlicher Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter werden therapeutische Versorgungskonzepte gerecht, die über die Behandlung der körperlichen Symptomatik hinaus psychische Anforderungen im Entwicklungskontext fokussieren. Eine solche Herangehensweise entspricht dem von der WHO vertretenen biopsychosozialen Verständnis chronischer Erkrankungen, welches Funktionseinbußen, Teilhabe und Versorgungsaufwand einbezieht (Wenzel u. Morfeld 2016).

      Als Ausdruck der psychischen Belastungen treten bei kindlichen und jugendlichen Patienten mit chronischen körperlichen Erkrankungen sowie ihren Angehörigen die in Abbildung 3 aufgeführten Symptome häufig auf. Zeigen die psychischen Symptome einen eigenen Krankheitswert, werden sie als Komorbidität einer organischen Erkrankung und einer psychischen Störung erfasst. In der Störungskategorie ICD-10: F43 werden akute Belastungsreaktionen, Anpassungsstörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen klassifiziert, welche primär als Reaktion auf außergewöhnlich belastende Lebensereignisse wie die Diagnose einer chronischen Erkrankung oder bei Angehörigen durch eine lang anhaltende überfordernde Pflege des Kindes oder Jugendlichen Anwendung finden. Eine weitere relevante Störungskategorie ist die ICD-10: F40.2, hier werden spezifische Phobien auf eng umschriebene Situationen, wie zum Beispiel spezielle körperliche Untersuchungen, beschrieben. Außerdem wird in der Praxis die Kategorie ICD-10: F41.2 angewendet, mit ihr wird das gleichzeitige Bestehen von Angst und depressiver Reaktion klassifiziert.

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       Abb. 3: Ausgewählte Störungskategorien (ICD-10) bei chronischen körperlichen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter

      Pinquart (2013) konnte in einer Metaanalyse zeigen, dass von chronischer körperlicher Krankheit betroffene Kinder und Jugendliche im Vergleich zu Kontrollgruppen körperlich gesunder Kinder stärker unter Depressivität, Angstsymptomen und Verhaltensproblemen leiden. Die internalisierenden Probleme werden oft als Reaktion auf Verlust, Einschränkungen und Unsicherheiten bezüglich des Krankheitsverlaufs interpretiert. Externalisierende Probleme sind meist als Reaktion auf die mit der Erkrankung einhergehende Frustration zu verstehen. Betroffene leiden ebenso vermehrt unter sozialen Problemen, schizoidem bzw. zwanghaften Verhalten und Aufmerksamkeitsproblemen. Im Vergleich zu jüngeren Kindern sind ältere Kinder ab sechs Jahren stärker von Symptomen betroffen, da mit höherem kognitivem Niveau eine bewusstere Wahrnehmung von Belastungen möglich ist und auch Folgen abgeschätzt und Vergleiche angestellt werden können. Zudem unterscheidet sich das Ausmaß der psychischen Reaktionen je nach körperlicher Einschränkung: Vor allem solche mit deutlich nach außen sichtbaren Symptomen wie Adipositas oder starken Funktionseinschränkungen im Alltag wie bei dem chronischen Erschöpfungssyndrom gehen mit erhöhter psychischer Belastung einher.

      Auch die Eltern chronisch erkrankter Kinder sind durch die zum Teil hohen emotionalen und organisatorischen Anforderungen vergleichsweise häufiger von Angst, Depressionen oder psychischem Stress betroffen (Teubert u. Pinquart 2013). Vor allem bei unklaren Prognosen, Angst vor dem Voranschreiten der Erkrankung und geringen Heilungschancen sowie Sorgen bezüglich der eigenen beruflichen Zukunft aufgrund der Notwendigkeit der Versorgung des Kindes entstehen negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Eltern. Da erkrankte Kinder häufiger Verhaltensauffälligkeiten zeigen, leiden betroffene Eltern zudem vermehrt unter Stress im Rahmen ihrer alltäglichen Erziehungspraxis. Bei Geschwisterkindern zeigen sich eher geringe Effekte auf die psychische Gesundheit. Hier sind vor allem internalisierende Reaktionen relevant, was dahingehend interpretiert wird, dass Geschwister eigene Bedürfnisse zurückhalten, um Eltern und erkranktes Kind nicht zusätzlich zu belasten (Tröster 2013). Auf der anderen Seite können Geschwister bei gelungener Anpassung eine hohen Sozialkompetenz mit besonderen empathischen Fähigkeiten entwickeln (Williams 1997).

      Die individuellen Bewältigungs- und Entwicklungsergebnisse des erkrankten Kindes und seiner Familie reichen jedoch grundsätzlich von einer psychischen gestörten Anpassungsreaktion über eine subklinische Beeinträchtigung der Lebensqualität oder eine ungestörte Entwicklung bis hin zum Gewinn von Resilienz (Noeker 2013). Das Adaptionsergebnis ist dabei kein statischer Zustand, sondern ein Funktionsniveau, das sich ständig verändert, da es in Wechselwirkung mit Einflussfaktoren wie beispielsweise dem Verlauf und der Schwere der Erkrankung sowie personellen, familiären oder sozialen Ressourcen steht (vgl. Abb. 4).

       Abb. 4: Schematische Darstellung der Einflussfaktoren und Entwicklungsergebnisse der Bewältigung einer chronischen körperlichen Erkrankung im Kindes- und Jugendalter nach Petermann u. Noeker (2013)

       1.3Chronische körperliche Erkrankungen mit multiplen lebenslänglichen Einschränkungen

       1.3.1Spina bifida

       Klinisches Krankheitsbild

      Spina bifida stellt die häufigste Fehlbildung des Nervensystems dar. Dabei schließt sich das Neuralrohr in der 3. bis 4. Schwangerschaftswoche nicht oder nur unvollständig. Ausprägung, Lokalisation und damit verbundene Beeinträchtigungen variieren stark. Die genaue Ursache von Spina bifida ist unklar, es wird aber ein Zusammenhang mit Folsäuremangel in der Schwangerschaft vermutet. Aktuell wird in Deutschland bei 1.000 bis 2.000 Geburten ein an Spina bifida erkranktes Kind entbunden (Muntau 2007).

      Kinder mit Spina bifida leiden häufig an mindestens einer der folgenden Begleiterkrankungen: Chiari-Syndrom (Entwicklungsstörung mit Kleinhirnverschiebungen), Tethered Cord (krankhaft angeheftetes Rückenmark) sowie Hydrocephalus (übermäßige Liquorproduktion mit Resorptionsstörung). Zu den multiplen Folgen zählen Blasen- und Mastdarmstörungen (und folglich Inkontinenz), Defizite im motorischen, sensiblen und vegetativen Bereich, Asymmetrien des Körperwachstums und Fehlstellungen von Füßen, Knien und Hüfte, kognitive Defizite, Epilepsie oder ein verfrühtes Einsetzen der Pubertät (Bremer 2003). Sofern ausgedehnte Myelozelen chirurgisch nicht behandelt werden können, kommt es häufig zu einer auf einige Monate bis wenige Jahre begrenzten Lebenserwartung und/oder schweren Mehrfachbehinderungen (Neuhäuser 2006).

      Die medizinische Therapie ist abhängig von der Ausprägung und der Lage des Defekts. Geschlossene Defekte ohne funktionelle Einschränkungen bedürfen mitunter keiner Therapie. Offene Neuralrohrdefekte sollten innerhalb von 48 Stunden nach der Geburt operativ geschlossen werden, um Infektionen zu vermeiden. Zudem kann das Einsetzen eines Shunts (operativ geschaffene direkte Verbindung einer Arterie und einer daneben oder in der Nähe liegenden Vene) dabei helfen, Liquor abzuleiten. Auch eine physio- und ergotherapeutische Behandlung kann indiziert sein (Neuhäuser 2006).

       Psychische Folgen

      Spina-bifida-Patienten leiden infolge ihrer Erkrankung häufig an Störungen der Aufmerksamkeit, Bewegung, Sprache sowie der Lese- und Rechenfähigkeit (Dennis a. Barnes 2010), wobei das Risiko bei Kindern mit einem Hydrocephalus besonders hoch ist (Zielińska, Rajtar-Zembaty a. Starowicz-Filip 2017). Der Intelligenzquotient der Betroffenen liegt im Durchschnitt unter dem Normwert, weshalb im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen seltener höhere Bildungsabschlüsse erzielt werden. Generell

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