Metamorphosen. Ovid

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Metamorphosen - Ovid Reclam Taschenbuch

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[95] gelangt sie zum Grabhügel. Schon hat sie sich unter dem verabredeten Baum niedergelassen – die Liebe machte sie kühn! –, siehe, da kommt eine Löwin, deren schäumender Rachen mit frischem Blut besudelt ist, um ihren Durst am Wasser der benachbarten Quelle zu löschen. Von fern sah die Babylonierin Thisbe sie im Mondschein [100] und floh mit scheuen Schritten in eine dunkle Höhle. Auf der Flucht glitt ihr der Mantel von den Schultern, und sie ließ ihn zurück. Sobald die wilde Löwin ihren Durst mit viel Wasser gestillt hatte, fand sie zufällig auf dem Rückweg zum Wald den feinen Umhang ohne das Mädchen und zerfetzte ihn mit ihrem blutigen Maul. [105] Später verließ Pyramus das Haus. Er sah im tiefen Staub ganz deutlich die Spuren des wilden Tieres. Da erbleichte er übers ganze Gesicht. Doch als er auch noch das blutbefleckte Kleidungsstück fand, sprach er: ›Eine Nacht wird zwei Liebende vernichten. Thisbe hätte es wahrhaftig verdient, lange zu leben; [110] doch meine Seele ist voller Schuld. Ich habe dich, Bejammernswerte, getötet, da ich dich bei Nacht in eine gefährliche Gegend kommen ließ und nicht als erster hierherkam. Zerfleischt meinen Leib und verzehrt mit wildem Biß meine fluchbeladenen Eingeweide, all ihr Löwen, die ihr unter diesem Felsen haust! [115] Aber es zeugt von Ängstlichkeit, den Tod nur zu wünschen!‹ Er nimmt Thisbes Umhang, trägt ihn zum Schatten des Baumes, an dem sie sich verabredet hatten. Und nachdem er das vertraute Gewand mit Tränen benetzt und mit Küssen bedeckt hatte, sprach er: ›Trinke du jetzt auch mein Blut!‹ Und das Schwert, mit dem er umgürtet war, stieß er sich in den Leib. [120] Sogleich zog er es sterbend aus der heißen Wunde und lag rücklings am Boden. Da springt das Blut hoch empor, wie wenn lange Wasserstrahlen aus einem schadhaften Bleirohr durch einen feinen Riß zischend hervorschießen und stoßweise die Luft durchbrechen. [125] Vom Mordblut besprengt, werden die Früchte des Maulbeerbaumes schwarz, und von Blut gerötet, färbt die Wurzel die am Baum hängenden Maulbeeren purpurn.

      Siehe, der Schrecken sitzt Thisbe noch in den Gliedern; aber sie kehrt zurück, um den Geliebten nicht zu enttäuschen. Ihr Auge, ihr Herz sucht den jungen Mann. [130] Und sie brennt darauf, von der großen Gefahr zu erzählen, der sie entronnen ist. Zwar erkennt sie den Ort und die Umrisse des Baumes, den sie erblickt; doch die Farbe der Früchte läßt sie zögern. Sie ist unsicher, ob es der richtige ist. Während sie noch zweifelt, sieht sie zuckende Glieder den blutigen Boden schlagen. Da trat sie etwas zurück. [135] Ihr Gesicht wurde bleicher als Buchsbaumholz, und sie erschauerte wie ein Meer, das zittert, wenn ein schwaches Lüftchen darüber hinstreicht. Sie hält inne. Schon hat sie ihren Liebsten erkannt und schlägt sich laut klatschend die Arme, die keine Schläge verdienen. Und indem sie sich das Haar raufte und den Leib des Geliebten umarmte, [140] füllte sie die Wunde mit Tränen, die sie mit dem Blut vermischte, drückte Küsse auf das eiskalte Gesicht und schrie: ›Pyramus, welches Unglück hat dich mir geraubt? Pyramus, antworte! Deine Thisbe ruft dich beim Namen, Liebster! Höre mich und hebe dein Gesicht vom Boden!‹ [145] Als er Thisbes Namen hörte, hob Pyramus die schon vom Tode beschwerten Augen zu ihr auf und schloß sie wieder, als er die Geliebte gesehen hatte. Kaum hatte sie ihr Gewand erkannt und die elfenbeinerne Scheide ohne Schwert gesehen, sprach sie: ›Deine eigene Hand und die Liebe haben dich, Unglücklicher, vernichtet! Auch ich habe eine Hand, [150] und für dies eine wird sie tapfer genug sein. Auch in mir ist Liebe, und sie wird mir Kraft geben, mich zu verwunden. Ich werde dir folgen und die Ursache deines Sterbens und deine Gefährtin im Tode heißen, ich Unglückselige! Dich konnte, ach, nur der Tod von mir trennen; aber nicht einmal der Tod soll dich von mir trennen können. Um dies eine freilich laßt euch bitten, [155] ihr vom Unglück geschlagenen Väter – der deine und der meine! Da uns treue Liebe, da uns die letzte Stunde verband – mißgönnt es uns nicht, im selben Grab bestattet zu werden! Du aber, Baum, der du jetzt den bejammernswerten Leib eines Menschen und bald deren zwei mit deinen Zweigen beschirmst – [160] behalte du die Zeichen des Mordes, trage stets dunkle, trauerfarbene Früchte als Denkmal für unser beider Blut!‹ Sprach’s, hielt sich die Klinge unter die Brust und stürzte sich ins Schwert, das noch vom Mordblut warm war. Doch die Wünsche rührten die Götter und rührten die Eltern. [165] Denn die Frucht hat, nachdem sie ganz gereift ist, eine schwarze Farbe, und was die zwei Scheiterhaufen übrigließen, ruht in einer einzigen Urne.«

      Mars und Venus – Leucothoe – Clytie

      Sie war zu Ende. Es gab eine kurze Pause, dann begann Leuconoe zu sprechen, und die Schwestern schwiegen.

      »Auch den Sonnengott, der alles mit seinem himmlischen Licht beherrscht, [170] hat die Liebe ergriffen. Von seinen Liebesabenteuern will ich berichten. Als erster soll dieser Gott den Ehebruch der Venus mit Mars gesehen haben – sieht doch dieser Gott alles als erster. Die Tat schmerzte ihn, und er zeigte dem Ehemann, Iunos Sohn, das Schäferstündchen an und den Ort, an dem es stattfand. [175] Der aber verlor den Verstand und das Werkstück, das er in der schmiedekundigen Hand hielt. Alsbald feilt er Ketten aus Erz zurecht, Netze und Schlingen, so fein, daß sie das Auge täuschen können – diese Arbeit übertreffen nicht einmal hauchdünne Gewebe, ja, nicht einmal die Spinnwebe, die ganz oben am Balken hängt. [180] Er bewirkt auch, daß sie leichten Berührungen und kleinen Bewegungen nachgeben, und legt sie kunstvoll rings um das Bett aus. Sobald nun die Ehefrau und der Ehebrecher auf ein und demselben Lager zusammengekommen sind, werden sie durch die Kunst des Mannes und durch die neuartigen Fesseln mitten in den Umarmungen ertappt und sind beide gefangen. [185] Im Nu hat der Lemnier die elfenbeinernen Türflügel geöffnet und die Götter eingelassen. Jene aber lagen schimpflich verstrickt – und einer der gutgelaunten Götter wünscht es sich gar noch, auf solche Weise in Schimpf und Schande zu geraten! Die Götter lachten, und lange war diese Geschichte im ganzen Himmel die bekannteste.

      [190] Cytherea, die nicht vergessen kann, verlangt nach Sühne für die Anzeige des Sonnengottes. So macht sie den, der sie in ihrer heimlichen Liebe kränkte, ebenso liebeskrank. Was nützen dir jetzt, du Sohn Hyperions, Schönheit, Farbe und das Licht, das du ausstrahlst? In dir, der du alle Lande mit deinem Feuer verbrennst, [195] brennt nämlich jetzt ein neues Feuer, und du, der du alles sehen mußt, schaust nur Leucothoe an und heftest den Blick, den du der Welt schuldig bist, auf ein einziges Mädchen. Bald gehst du zu früh am Morgenhimmel auf, bald sinkst du zu spät in die Wellen, und weil du dich nicht satt sehen kannst, verlängerst du die Winterstunden. [200] Zuweilen bleibst du ganz aus, der Fehler deines Geistes greift auf dein Licht über: Du verfinsterst dich und erschreckst die Menschenherzen. Bleich wirst du nicht etwa, weil die Gestalt des Mondes, der näher bei der Erde ist, dazwischensteht; nein, deine Liebe bewirkt diese Farbe. Du liebst nur dieses Mädchen; und dich fesselt weder Clymene noch Rhodos, [205] noch die wunderschöne Mutter der aeaeischen Circe, noch Clytie, die zu deinem Lager strebte, obwohl du sie verachtetest – gerade damals hatte die Liebe ihr Herz tief verwundet –: Leucothoe ließ dich die vielen anderen vergessen. Sie war die Tochter der Eurynome, der schönsten Frau in dem Volk, das den Weihrauch erzeugt. [210] Aber nachdem ihre Tochter herangewachsen war, übertraf die Tochter die Mutter so weit an Schönheit wie die Mutter alle anderen. Die achaemenischen Städte regierte ihr Vater Orchamus. Man zählt ihn in seinem Stammbaum als siebten nach dem alten Belus.

      Unter Hesperiens Himmel liegen die Weideplätze der Sonnenrosse. [215] Statt Gras fressen sie Ambrosia; das nährt ihre Glieder, wenn sie vom Dienst des Tages erschöpft sind, und kräftigt sie wieder für die Arbeit. Während die Vierbeiner dort himmlische Kräuter rupfen und die Nacht den Tag ablöst, betritt der Gott in Gestalt der Mutter Eurynome die ersehnte Kammer. [220] Da sieht er Leucothoe inmitten von zweimal sechs Dienerinnen bei Lampenlicht den Rocken drehen und glatte Fäden spinnen. Kaum hat er mütterlich der lieben Tochter einen Kuß gegeben, spricht er: ›Mein Anliegen ist geheim; geht hinaus, ihr Dienerinnen, und nehmt der Mutter nicht die Freiheit, mit der Tochter im Vertrauen zu sprechen!‹ [225] Schon hatten sie gehorcht, und als keine Zeugen mehr in der Kammer waren, sprach der Gott: ›Ich bin’s, der dem langen Jahr das Maß gibt, der alles sieht, durch den die Erde alles sieht, das Auge der Welt. Glaub es nur: Du gefällst mir.‹ Sie ist erschrocken. Vor Angst lockerten sich ihre Finger, und Spindel und Rocken fielen zu Boden. [230] Gerade die Furcht stand ihr gut zu Gesichte. Und er zögerte nicht länger und nahm wieder seine wahre Gestalt an, strahlend wie immer. Und obwohl der unerwartete Anblick die Jungfrau erschreckte, überwältigte sie der Glanz des Gottes, und

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