Metamorphosen. Ovid
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Die Minyastöchter (II)
Die Erzählung war zu Ende, doch immer noch arbeiten die Minyastöchter fieberhaft, [390] mißachten den Gott und entweihen den Feiertag, als plötzlich unsichtbare Pauken mit dumpfen Tönen störend erklangen. Die Oboe mit gebogenem Horn und klirrende Erzbecken erschallen, Myrrhen- und Krokusduft steigt auf. Da – o Wunder! – begannen die Webstühle zu grünen, [395] und zu Efeulaub wurde das herabhängende Gewebe. Manches davon wird zu Reben, und was eben noch ein Faden war, verwandelt sich in eine Weinranke; aus den Kettfäden sprießt Weinlaub, und der Purpur färbt die Trauben und verleiht ihnen Glanz. Schon war der Tag erloschen, und die Stunde nahte, [400] die man weder Finsternis noch Licht nennen kann, sondern die Grenze zwischen dem Tag und der zögernden Nacht; da war es plötzlich, als bebe das Haus und als loderten darin harzige Fackeln, als erstrahle die Halle in rötlichem Feuer und als heulten Trugbilder wilder Tiere. [405] Schon lange halten sich die Schwestern in ihrem rauchgeschwängerten Hause versteckt und flüchten vor dem Feuer und dem Licht in verschiedene Winkel; und während sie ins Dunkel streben, spannt sich zwischen ihren feinen Gelenken eine Flughaut, und ihren Arm umschließt ein dünner Flügel. Und das Dunkel erlaubt nicht zu wissen, [410] auf welche Weise sie ihre frühere Gestalt verloren. Kein Federkleid hob sie empor, sie hielten sich dennoch mit durchscheinenden Schwingen in der Schwebe. Sie versuchen zu sprechen, doch stoßen sie nur einen ganz schwachen Ton aus, der ihrer kleinen Gestalt entspricht, klagen leise zirpend und halten sich in Häusern, nicht im Walde auf. Da sie das Tageslicht hassen, [415] fliegen sie bei Nacht aus und sind nach dem späten Abend benannt.
Ino und Melicertes
Daraufhin war die göttliche Macht des Bacchus zu Theben in aller Munde. Und Ino, die Schwester seiner Mutter, erzählt überall die großen Wundertaten des neuen Gottes. Sie war als einzige von so vielen Schwestern von Leid verschont geblieben – abgesehen von dem Leid, das sie um ihrer Schwestern willen litt. [420] Stolz ist sie auf ihre Kinder, auf ihre Ehe mit Athamas und auf ihren Zögling, der ein Gott ist. So sieht Iuno sie, erträgt es nicht und spricht zu sich selbst: »Hat es der Sohn der Nebenfrau nicht fertiggebracht, die maeonischen Schiffer zu verwandeln und ins Meer zu versenken, die Mutter Agaue den Leib des eigenen Sohnes zerfleischen zu lassen [425] und die drei Minyastöchter mit neuartigen Flügeln zu umhüllen? Iuno aber soll über unvergoltene Kränkungen nur weinen können? Ist mir das genug? Ist das meine ganze Macht? Er selbst kann mich lehren, was ich zu tun habe – man darf ja auch vom Feind etwas lernen! Was Wahnsinn vermag, hat er durch die Ermordung des Pentheus genügend [430] bewiesen – ja, mehr als genügend. Warum soll man nicht Ino aufstacheln und sie ihrerseits im Wahnsinn dem Beispiel ihrer Verwandten folgen lassen?«
Es gibt einen abschüssigen Weg, von düsterem Taxus umschattet; er führt durch Totenstille in die Unterwelt. Die träge Styx haucht Nebelschwaden aus; soeben Verstorbene [435] steigen dort hinab, Schatten, welche die Bestattung hinter sich haben. Bleicher Winter herrscht weithin in der Einöde, und die neuangekommenen Geister wissen nicht, wo der Weg ist, wo es zur stygischen Stadt geht und wo sich die grauenerregende Königsburg des finsteren Pluto befindet. Zur Aufnahme bereit, hat die Stadt tausend Eingänge und auf allen Seiten offene Tore. [440] Wie das Meer die Flüsse von der ganzen Erde, so nimmt jener Ort alle Seelen auf, ist für kein Volk zu klein und fühlt nichts vom Zuwachs der Menge. Blutlos, ohne Fleisch und Bein, irren die Schatten umher. Die einen bevölkern das Forum, die andern den Palast des Herrschers der Tiefe, [445] andere treiben irgendein Handwerk – ein Abbild ihres früheren Lebens –, wieder andere büßen für ihre Sünden.
Saturns Tochter Iuno bringt es über sich, dorthin zu gehen und ihren himmlischen Wohnsitz zu verlassen – so wichtig nahm sie ihren Haß und ihren Zorn. Als sie eintrat und die Schwelle unter dem Gewicht des göttlichen Leibes ächzte, [450] streckte Cerberus seine drei Köpfe hervor und bellte dreistimmig. Sie ruft die Schwestern, die Töchter der Nacht, deren Gottheit streng und unerbittlich ist. Sie saßen vor den mit Stahl verriegelten Kerkertüren und kämmten die schwarzen Schlangen in ihrem Haar. [455] Sobald sie Iuno im nebligen Schatten erkannt hatten, erhoben sich die Göttinnen. Der Ort heißt Stätte der Frevler: Da ließ Tityos seine Eingeweide zerfleischen und war über neun Morgen Landes ausgestreckt; du, Tantalus, bekommst kein Wasser zu fassen, und der Baum, der zum Greifen nahe ist, entflieht. [460] Sisyphus, du holst den Felsblock, oder du schiebst ihn bergauf, bis er wieder hinabrollt; Ixion dreht sich, verfolgt sich selbst und flieht vor sich, und die Beliden, die es wagten, ihre Vettern zu ermorden, schöpfen beharrlich Wasser, um es zu verlieren.
Nachdem Iuno sie alle mit finsteren Blicken gemessen hatte [465] – ganz besonders Ixion –, wandte sie sich von diesem wieder Sisyphus zu und sprach: »Warum leidet gerade dieser hier von allen Brüdern eine ewige Strafe, während Athamas, der zusammen mit seiner Gattin mich stets verachtet hat, stolz in seinem reichen Königspalast thront?« Und sie erklärt die Gründe ihres Hasses und ihres Kommens und sagt, [470] was ihr Wunsch und Wille sei. Ihr Wunsch war, der Palast des Cadmus solle stürzen, und der Wahnsinn solle Athamas zum Verbrechen treiben. Befehle, Versprechungen, Bitten bringt sie in einem Atemzuge vor und hetzt die Göttinnen auf. Nachdem Iuno so gesprochen hatte, schüttelte Tisiphone ihr graues Haar, wirr, wie es war, [475] warf die Schlangen, die ihr ins Gesicht hingen, zurück und sprach: »Es bedarf keiner langen Umschweife. Halte alles, was du befiehlst, für schon getan. Verlaß das unfreundliche Reich und begib dich zurück zu den Lüften des schöneren Himmels.« Froh kehrt Iuno zurück. Iris, die Tochter des Thaumas, [480] besprengte sie mit Wasser, um sie zu entsühnen, bevor sie den Himmel betrat.
Unverzüglich ergreift die unheilbringende Tisiphone ihre in Blut getauchte Fackel, zieht den Mantel an, der von strömendem Mordblut gerötet ist, bindet sich eine Schlange als Gürtel um und verläßt ihr Haus. Auf dem Wege begleiten sie die Trauer, [485] die Angst, der Schrecken und der Wahnsinn mit unstetem Blick. Schon stand sie auf der Schwelle, da zitterten die Pfosten am Hause des Aeolus – so geht die Sage –, die Türflügel aus Ahorn erblaßten, und die Sonne floh jenen Ort. Über die bösen Zeichen erschrak die Königin, auch Athamas erschrak, und sie wollten das Haus verlassen. [490] Da trat ihnen die unheilbringende Rachegöttin entgegen und belagerte den Eingang; sie breitete die mit Schlangenknoten umschlungenen Arme aus und schüttelte ihr Haar; die aufgestörten Nattern gaben einen Laut von sich; teils auf ihren Schultern ruhend, teils um die Brust kriechend zischen sie, speien Gift und züngeln. [495] Dann reißt Tisiphone mitten aus ihrem Haar zwei Schlangen, packt sie, und schon hat sie beide mit verderbenbringender Hand ins Haus geschleudert. Sie aber kriechen auf Inos und Athamas’ Brust umher und blasen ihnen ihren Gifthauch ein. Dabei verwunden sie die Glieder nicht, der Geist ist’s, der ihre entsetzlichen Bisse zu spüren bekommt. [500] Mitgebracht hatte die Furie auch grauenhaftes flüssiges Gift: Schaum vom Maul des Höllenhundes, Geifer der Echidna, schweifendes Irren, Vergessen, das den Verstand mit Blindheit schlägt, Frevel, Tränen, Raserei und Mordlust – alles ineinander gerieben; das hatte sie mit frischem Blut vermischt, [505] im Bauch eines ehernen Kessels gekocht und mit grünem Schierling umgerührt. Während jene noch voll Angst waren, schüttete sie beiden das höllische Gift in die Brust und wiegelte sie im Innersten auf. Dann schwingt sie die Fackel immer wieder im Kreise herum, so daß durch die schnelle Bewegung ein Feuer das andere einholt. [510] So ist sie Siegerin, kehrt nach erfülltem Auftrag ins Schattenreich des großen Pluto zurück und löst die Schlange, die sie als Gürtel mitgenommen hat.
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