Kalte Nacht. Anne Nordby
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Er schließt sein Auto auf, um ins Büro zurückzufahren, da klingelt sein Handy. Es ist eine unbekannte schwedische Nummer. Als er abnimmt und die Person am anderen Ende sich vorstellt, ist er überrascht.
»Maja Lövgren?«, fragt er. »Die Majaja?«
»Genau die Majaja. Sag, wie geht es dir, Tom?«
»Äh, ganz okay. Mann, ist das ein Ding!«
»Nicht wahr? Und was macht Gisa? Ich habe das letzte Mal vor fünf oder sechs Jahren etwas von ihr gehört. Ist sie noch auf diesem Kreuzfahrtdampfer unterwegs?«
Ein wenig verhalten berichtet Skagen, dass seine Schwester seit zwei Jahren ihr Kapitänspatent besitzt und für AIDA-Cruises im Mittelmeer und im Persischen Golf herumschippert. Dass ihm dieser Gedanke manchmal eine Heidenangst einjagt, behält er für sich.
»Wow. Was für ein Traumjob«, stößt Maja Lövgren sehnsuchtsvoll aus. »Immer schönes Wetter und dabei ferne Länder erkunden. Herrlich. Aber über zu wenig Sonne können wir uns ja im Moment nicht beschweren, was? Langsam könnte es mal wieder regnen. Ist alles viel zu trocken hier in Schweden. Waldbrandgefahr Stufe Glühendrot. Mensch, Tom, ich kann’s gar nicht fassen, dass ich dich am Telefon habe. Und dass wir jetzt im selben Verein spielen, wusste ich auch nicht. Wie kommt’s? Ich dachte, du liebst die Seefahrt so sehr, dass du mit dem Meer verheiratet bist. Oder hat es eine Frau geschafft, dich vom Schiff zu zerren und an Land festzupflocken? Na, sag schon!«
»Welche Braut kann schon mit der See konkurrieren?«, gibt Skagen zurück, ohne auf die vielen Fragen einzugehen.
»Stimmt. Ein echter Seebär wie du hat vermutlich in jedem Hafen eine.« Maja lacht, und es klingt so schmerzhaft vertraut, dass es Skagen unvermittelt die Brust zuschnürt. Ungefiltert drängen Erinnerungen herauf und katapultieren ihn zurück in seine Kindheit auf den Schären. Er sieht die glitzernde Weite des Wassers, nackte Füße, die über die Kaimauer baumeln, und Sahneeis im Becher. Er spürt das Salz auf seiner Haut und die Stumpfheit von Majas blonden Haaren, die vom Meerwasser strohig geworden sind, wenn sie an der Mole gebadet haben. Es war ein Sommer voll heimlichem Geflüster und Schwärmereien. Ein Sommer in Karlskrona. Aber anstelle eines warmen Nostalgiegefühls spürt Skagen einen dumpfen Druck im Bauch. Kurz darauf beginnen die wohlvertrauten Haken der Angst sich in seine Haut zu bohren.
Denn da ist auch das Meer.
Die Dunkelheit der See, die Karlskrona umfängt.
Nach dem, was ihm passiert ist, hat er es nie mehr geschafft, dorthin zu fahren. In die Stadt auf der Schäreninsel, umringt vom Meer. In die Straßen seiner sorglosen Kindheit. Nicht einmal in seiner Erinnerung hat er dorthin gehen können, in die Zeit, in der alles möglich schien, als alle Träume noch Träume und keine Albträume waren.
Er muss schlucken und versucht, die heiß heraufsprudelnde Panik unter Kontrolle zu bringen. Die Panik, von der er gedacht hat, sie mithilfe seiner Therapeutin bezwungen und an die Leine gelegt zu haben. Doch sie ist wieder da, hat die ganze Zeit in den finsteren Untiefen seines Bewusstseins darauf gelauert, erneut aufsteigen zu können. Erschüttert von dieser Erkenntnis fährt sich Skagen über das schweißnasse Gesicht.
»He, Tom? Was ist los?«, fragt Maja am anderen Ende der Leitung. »Du bist so still.«
»Alles gut, ich bin nur so überrascht, von dir zu hören.«
»Und ich erst!« Maja lacht erneut, und der vertraute Klang bringt den Boden unter Skagens Füßen ins Wanken. Er muss sich auf der Motorhaube aufstützen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Am liebsten hätte er aufgelegt. Aber was sollte Maja von ihm denken? Also hört er sich still an, was sie von der Hausdurchsuchung berichtet. Was sie dabei gefunden haben und dass Frau Nowak noch immer verschwunden ist.
»Habt ihr einen Suchtrupp?«, fragt Skagen, als er sich sicher sein kann, dass seine Stimme ihn nicht im Stich lässt.
»Den werden wir morgen losschicken«, entgegnet Maja. »Wenn wir mehr wissen.« Sie zögert. »Kannst du nicht herkommen und uns vor Ort unterstützen? Göran, unser Ermittlungsleiter, ist, na ja, manchmal ein wenig zu sehr mit sich selbst beschäftigt.«
Skagen will gerade darauf antworten, als Maja einen überraschten Laut ausstößt. »Oh, tut mir leid, Tom, ich muss auflegen. Die Spurensicherung hat etwas gefunden. Ich melde mich später wieder. Mach’s gut.«
Im nächsten Moment ist es still in der Leitung, und zum zweiten Mal an diesem Tag starrt Skagen verdutzt sein Telefon an.
7
In der Woche davor
»Heute Nacht war ein Troll da«, sagt Ronja und grinst über das ganze Gesicht. Marmelade klebt an ihrem Kinn. Tina kommt mit dem Abwischen gar nicht hinterher. Die Blaubeerkonfitüre ist die Hölle. Morgen würde sie eine andere Marmelade auf den Frühstückstisch stellen.
»Ein Troll? Wirklich?«, fragt Jochen fröhlich. »Das ist ja spannend. Und was wollte der bei uns?«
»Nichts.« Ronja lacht. »Er hat am Waldrand gestanden und unser Haus beobachtet.« Sie reißt die Augen auf und legt die Hände an ihre Schläfen, als blicke sie durch ein Fenster. Na prima, jetzt ist auch noch Marmelade in ihren Haaren, denkt Tina.
»Er hat geguckt, ob er mich holen kann.«
»Dich holen?« Jochen runzelt die Stirn. »Warum sollte er dich holen?«
»Weil ich ein Troll bin.« Ronja stößt einen dieser grunzenden Laute aus, die sie sich angewöhnt hat, seit sie ihr das Märchenbuch über Trolle geschenkt haben.
»Na, da hast du ja was zu erzählen, wenn du nach den Ferien wieder in der Schule bist.« Jochen drückt sich Tubenkäse aufs Knäckebrot und beißt lautstark ab. »Wer von deinen Schulkameraden kann schon von sich behaupten, dass er einen Troll gesehen hat?«, fährt er mit vollem Mund fort, Krümel fliegen über den Tisch.
»Ach Mensch, Jochen«, ermahnt ihn Tina.
»Och Mönsch, Tinaaaa«, imitiert Jochen sie und lacht. Ronja lacht mit.
Lola, die den beiden gegenübersitzt, gibt einen genervten Seufzer von sich, während sie in Minischlucken ihren Tee trinkt.
»Willst du nicht noch einen Toast?«, fragt Tina.
»Nein.«
»Du hast fast nichts gegessen.«
»Das Brot schmeckt scheiße.«
»Eva-Lotta! Du weißt, was wir vereinbart haben.«
Lola rollt mit den Augen.