Die fünfte Jahreszeit. Anette Hinrichs

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Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs

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Verbindung zu der Krimiautorin Charlotte Leonberger gab.

      Hoffentlich würden die ehemaligen Patientenakten des Kinderarztes etwas hergeben. Sie war enttäuscht gewesen, als Fricke ihr diese Aufgabe am Morgen übertragen hatte. Lieber hätte sie an den Zeugenvernehmungen teilgenommen. Ihr nächtlicher Besuch war nicht zur Sprache gekommen, doch Malin vermutete, dass sie damit bei ihrem Vorgesetzten die letzten Sympathien verspielt hatte.

      Das Durchsehen der Patientenakten war ein mühsames Unterfangen. Die in braune Pappdeckel gebundenen Blätter der unsortierten Aktenberge waren staubig und mit einer krakeligen Schrift bedeckt, die Malin nur schwer entziffern konnte. Stunde um Stunde notierte sie sich Namen von Patienten und Stichpunkte über die jeweiligen Krankheitsverläufe.

      Es war bereits später Nachmittag, als sie die letzte Akte eines Stapels beiseitelegte. Die Hälfte war geschafft. Nachdenklich schaute sie zu dem Schreibtisch gegenüber. Frederick Bar­tels hatte sich den Telefonhörer zwischen Ohr und Schulter geklemmt und hackte wild auf seiner Computertastatur herum. Er wirkte missmutig, während er der Stimme am anderen Ende der Leitung lauschte. Jetzt nahm er den Hörer vom Ohr, warf ihn auf die Telefonanlage und starrte ihn an.

      »Ärger?«, fragte Malin.

      »So was Ähnliches«, murmelte er. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. »Und, was macht dein Krimi? Ich habe von deinem nächtlichen Besuch bei Fricke gehört.«

      Malin spürte, wie sie errötete.

      Bartels erhob sich von seinem Stuhl und zwinkerte ihr zu, bevor er das Büro verließ.

      Resigniert betrachtete sie ihren Aktenberg. Kurzerhand beförderte sie die Stapel auf ihren Beistelltisch und griff nach der Ermittlungsakte des Torhausmordes. Dann ging sie zu dem Whiteboard und betrachtete die Tatortfotos. Irgend­etwas musste doch zu finden sein.

      Ein Blick zum Fenster mit der Aussicht auf die Bürostadt City Nord zeigte ihr, dass es bereits dämmerte. Ich fahre noch mal zum Torhaus, dachte sie. Aber erst muss ich noch etwas anderes in Erfahrung bringen. Sie ging zurück zu ihrem Schreibtisch und blätterte in der Ermittlungsakte, bis sie gefunden hatte, was sie suchte. Dann griff sie nach dem Telefon. Sie wollte schon auflegen, als Henriette Woy sich endlich meldete.

      Wenige Minuten später hatte Malin erfahren, was sie wissen wollte.

      Lachend winkte Viktoria Steiner ihrer Freundin Elisabeth zum Abschied noch einmal zu.

      Während ihres Telefonats am Morgen hatten sie beschlossen, sich in ihrem Lieblingslokal zu treffen und mit einem Glas Wein auf Viktorias Geburtstag anzustoßen. Die rustikale Kellerwirtschaft mit dem alten Gewölbe war an diesem Abend brechend voll gewesen. Viktoria fühlte sich so unbeschwert wie schon lange nicht mehr, und ging leichten Schrittes auf dem Weg zu ihrem Auto durch die Straßen am Großneumarkt. Je weiter sie sich von dem belebten Platz entfernte, desto stiller wurde es um sie herum.

      Das Geräusch von eiligen Schritten hinter ihr machte sie ein wenig nervös. Sie drehte sich um, doch außer ihrem eigenen Schatten war nichts zu sehen. Viktoria war froh, als sie endlich das Ende der Peterstraße erreichte. Die historischen Bürgerhausfassaden mochten tagsüber durchaus reizvoll sein, abends war die Atmosphäre eher düster und bedrückend. Nieselregen setzte ein und sie erschauderte leicht. Laut klackerten ihre Absätze auf dem Kopfsteinpflaster. Endlich am Auto angekommen stieg sie ein und verriegelte die Türen.

      Die Straße war menschenleer. Sie manövrierte ihren Wagen aus der Parklücke und fuhr über die Lombardsbrücke Richtung Barmbek-Süd. Für einen Moment schaute sie aus dem Seitenfenster und genoss den Ausblick auf die beleuchtete Binnenalster.

      Zum ersten Mal an diesem Tag erlaubte sie sich den Gedanken an Hannes. Seit seinem Tod vor acht Monaten hatte sie sich aus dem gesellschaftlichen Leben völlig zurückgezogen und sich in ihrer Wohnung eingeigelt – bis heute.

      Von plötzlicher Heiterkeit erfasst, drückte sie die Taste ihres Radios. »I will survive« drang es aus den Lautsprecherboxen. Wie passend, dachte sie, und summte fröhlich mit. Vielleicht gibt es doch noch ein Leben für mich.

      Der Regen wurde stärker und der Verkehr an der Sechslingspforte staute sich. Schnell kramte sie in ihrer Handtasche nach einer Zigarette und verwarf die Idee gleich wieder. Ich höre auf, dachte sie, sofort – einen besseren Zeitpunkt gibt es nicht.

      Die Ampel sprang endlich auf Grün um. Zügig fuhr sie weiter. Auf einmal konnte sie es gar nicht mehr abwarten, nach Hause zu kommen. Sie würde sich ein schönes Glas Rotwein genehmigen, einen Merlot, den sie für besondere Anlässe aufbewahrt hatte. Dann würde sie es sich mit ihrem neuen Buch auf dem Sofa gemütlich machen.

      Sie bog in die Mozartstraße ein. Weit und breit war kein Parkplatz in Sicht. Vermutlich wäre es klüger gewesen, wenn sie den Bus genommen hätte.

      Eine Querstraße weiter entdeckte sie endlich eine Lücke, parkte ein und stellte den Motor ab. Der Regen wurde stärker. Fröstelnd zog sie ihren Mantel ein wenig enger. Plötzlich schrillte hinter ihr die Alarmanlage eines Autos. Sie fuhr zusammen. Schritte kamen näher. Viktoria umklammerte mit einer Hand fester ihre Tasche und suchte mit der anderen in ihrem Mantel nach dem Haustürschlüssel.

      Die Schritte kamen immer näher. Schließlich hatte sie den Schlüssel gefunden. Sie lief schneller, fing fast an zu rennen. Das Mietshaus, in dem sich ihre Wohnung befand, lag völlig im Dunkeln. Zitternd versuchte sie, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken, doch er fiel ihr aus der Hand. Rasch bückte sie sich und bemerkte beim zweiten Versuch, dass das Türschloss nicht richtig eingeschnappt war. Sie schlüpfte in den Hausflur und drückte hastig die Eingangstür zu. Viktoria lehnte sich mit dem Rücken dagegen und atmete tief durch. Ihr Herz raste.

      Du bist in Sicherheit. Erleichtert tastete sie sich im Dunkeln zum Lichtschalter.

      Ein Arm schlang sich von hinten um ihren Brustkorb und eine Hand presste etwas auf ihren Mund. Es roch schneidend. Ihr wurde übel, als sie gegen das aufkommende Schwindelgefühl ankämpfte.

      Dann verlor sie das Bewusstsein.

      7

      Der Nieselregen der letzten Nacht hatte sich komplett verflüchtigt und strahlender Sonnenschein tauchte die Stadt in eine für diese Jahreszeit ungewöhnliche Helligkeit.

      Zwiespältige Gefühle beschlichen Malin, als sie vom Parkplatz auf das Wellingsbüttler Torhaus zuging. Da ihr nächtlicher Besuch bei Fricke bereits Gesprächsthema über mehrere Etagen des Polizeipräsidiums war, hatte sie darauf verzichtet, die Kollegen über ihr Vorhaben zu unterrichten, und sich für die Mittagspause abgemeldet.

      Auf der Wiese lag eine Horde Jugendlicher, Mütter schoben Kinderwagen vor sich her und die meisten Parkbänke waren besetzt. Das Laub der Bäume strahlte in Gold- und Rottönen. Einzig ein paar Reste des rot-weißen Absperrbandes erinnerten an den Polizeieinsatz der letzten Woche.

      Malin blieb im Torbogen stehen. Deutlich stand ihr das Bild des toten Dr. Woy vor Augen. Sie schaute sich um und ging Schritt für Schritt den Bogen ab. Das alte Gemäuer und die dunklen Holzbalken verrieten nicht, was hier geschehen war.

      Eine mit Kameras behängte Gruppe Asiaten bog um die Ecke und stieß fast mit Malin zusammen. Ein schmaler Junge verbeugte sich entschuldigend vor ihr. Sie starrte ihn an. Ein paar schwarze Augen starrten zurück. Das Museum, dachte sie, und ging durch den Torbogen auf den hinteren Trakt des Torhausgebäudes zu.

      Ein Schild wies auf eine Sonderausstellung und die damit verbundenen zusätzlichen Öffnungszeiten

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