Die fünfte Jahreszeit. Anette Hinrichs
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Читать онлайн книгу Die fünfte Jahreszeit - Anette Hinrichs страница 9
Malin fiel ein, dass sie Suses Nachricht auf dem Anrufbeantworter bisher nicht einmal komplett abgehört hatte. Sie griff nach dem Telefon, um das nachzuholen.
»Malin, ich bin es. Ich wollte dich nur erinnern, dass Tanja nächste Woche Geburtstag hat. Und du könntest bei Gelegenheit mal deine Sporttasche abholen, bevor die Sachen anfangen zu gammeln. Ach ja, ich habe die beiden Krimis, die du mir geliehen hast, mit reingepackt. Also, wenn du nicht willst, dass deine Bücher anfangen zu müffeln, hol die Tasche ab. Und ruf mich an wegen Tanjas Geschenk, ich will das morgen besorgen.«
Malin starrte auf das Telefon in ihrer Hand. Dann flog ihr Blick zur Sporttasche im Flur. In Sekundenschnelle kniete sie neben der Tasche und zerrte zwei Taschenbücher heraus. Auf beiden Buchumschlägen prangte der Name Charlotte Leonberger. Ihr Puls beschleunigte sich, als sie das erste Buch durchblätterte. Es war nicht das richtige. Ungeduldig las sie die Zusammenfassung auf der Rückseite des anderen Buches. Das Gefühl, auf der richtigen Spur zu sein, bescherte ihr einen Adrenalinstoß nach dem anderen.
Dann fand sie es. Sie atmete tief durch und begann hochkonzentriert die entsprechenden Seiten durchzulesen. Als sie fertig war, legte sie das Buch beiseite. Sie hatte es ja gewusst!
Die Krimis der Autorin spielten in einer anderen norddeutschen Stadt, doch die Details stimmten überein. Die männliche Leiche, an allen vier Gliedmaßen gespannt in einem Torbogen, nur bekleidet mit einem weißen Stück Stoff. Der Tatort im Buch war ein Gutsanwesen, gebaut Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, und ebenfalls ein traditionsreiches Bauwerk.
Malin begann zu frösteln. Die Ungeheuerlichkeit ihrer Entdeckung wirbelte ihre Gedanken durcheinander. Sie griff nach dem Telefon und hinterließ ihrem Großvater eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Anschließend wählte sie die Privatnummer von Hauptkommissar Fricke. Nach dem ersten Freizeichen überlegte sie es sich jedoch wieder anders und legte auf.
Schnell schlüpfte sie in ihre Regenjacke, klemmte sich das Buch unter den Arm und verließ das Haus. Susanne Bremer war vergessen.
Zwanzig Minuten später parkte Malin ihren Mini vor einem Reihenhaus in Niendorf. Es war weiß verputzt und hatte einen kleinen Vorgarten mit frisch gestutzter Grünfläche. Das Haus lag im Dunkeln.
Sie klingelte und es dauerte einige Minuten, bis Fricke im Bademantel die Tür öffnete. Die Haare standen wild von seinem Kopf ab, seine Augen waren klein und verquollen. »Brodersen, was wollen Sie denn hier? Ist etwas passiert?«
»Entschuldigen Sie die späte Störung, aber ich habe da eine ungeheuerliche Entdeckung gemacht. Es geht um den Torhausmord. Hier, in diesem Buch wird der Mord beziehungsweise der Tatort exakt so beschrieben wie bei unserer Leiche.« Aufgeregt wedelte Malin mit dem Taschenbuch vor Frickes Gesicht herum.
»Und, steht auch drin, wer der Mörder ist? Dann können Sie ihn ja gleich verhaften.«
»Es geht da eher um die Zurschaustellung der Leiche. Die ist detailgetreu wie an unserem Tatort«, beteuerte Malin.
»Im Wellingsbüttler Torhaus?«
»Das nicht, aber …«
»Und deshalb wecken Sie mich mitten in der Nacht? Wegen eines Buches, in dem ein Mord geschieht, der gewisse Ähnlichkeiten mit unserem hat? Sie haben eindeutig zu viele Krimis gelesen.« Fricke hatte schon die Hand an der Tür.
»Aber vielleicht finden wir nach eingehender Analyse des Buches Hinweise auf den Täter«, beharrte Malin.
»Na, dann analysieren Sie mal und lassen mich schlafen.« Fricke schlug die Haustür zu.
6
Der Tag begann besser als erwartet.
Es war Viktoria gelungen, das Bett zu verlassen. Nach einem starken Kaffee kleidete sie sich langsam an. Dabei fiel ihr Blick auf den großen Spiegel. Sie wusste, dass sie allgemein als schön galt, schließlich hatte man es ihr schon oft gesagt. Doch sie selbst empfand anders. Kritisch betrachtete sie die Schatten, die sich unter den geschwollenen Augen auf der blassen Haut abzeichneten. Das dunkle Haar, einst ihr größter Stolz, fiel strähnig und glanzlos über ihren schmalen Rücken. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, zurück ins Bett zu gehen und wieder Zuflucht im schützenden Schlaf zu finden.
»So kann es nicht weitergehen, Viktoria Steiner«, flüsterte sie ihrem Spiegelbild zu. Es wurde Zeit, ins Leben zurückzukehren. Und sie musste es alleine schaffen. Helfen würde ihr dabei sicherlich niemand. Sie hatte alle vor den Kopf gestoßen.
Viktoria ging in die Küche und stellte ihre Kaffeetasse in die Spülmaschine. Sie schaute aus dem Fenster. Es war noch früh am Morgen und das Viertel erwachte langsam zum Leben. Vor dem kleinen Obst- und Gemüsegeschäft auf der anderen Straßenseite lud der türkische Besitzer Holzkisten mit frischer Ware aus seinem Transporter. Das Gewitter der letzten Nacht war leichtem Nebel gewichen. Hier und da wurde schon ein Stückchen des strahlend blauen Himmels sichtbar. Es würde ein schöner Tag werden.
Viktoria öffnete die oberste Schublade in ihrer Küchenzeile. Die Briefe waren bereits vor einigen Tagen eingetroffen, doch erst jetzt war der richtige Zeitpunkt, sie zu öffnen. Der erste war von ihren Eltern. Eine bunte Karte fiel heraus. Sie las die Worte mit Tränen in den Augen. Der zweite Umschlag enthielt ebenfalls eine Karte. Mit zittrigen Händen betrachtete sie die Zeichnung von zwei Mädchen, die ein riesiges Geschenkpaket zwischen sich hielten und versuchten, gleichzeitig die überdimensionale Schleife zu öffnen.
Weinend und lachend zugleich las sie die aufmunternden Worte ihrer Freundin Elizabeth. Mit den Briefen in der Hand ging Viktoria ins angrenzende Wohnzimmer. Sie ließ sich auf einen Sessel fallen und ihr Blick glitt automatisch zu dem großen Zeichentisch in einer Ecke des Raumes.
Sie hatte in den vergangenen Monaten nur einige halbherzige Versuche unternommen, ihre Arbeit wieder aufzunehmen, und war jedes Mal gescheitert. Doch dieses Mal würde sie es anders angehen. Sie hatte vor einigen Tagen das Angebot erhalten, ein Kinderbuch zu illustrieren, und sich eine Woche Bedenkzeit erbeten. Sie würde annehmen. Nicht zuletzt wegen ihrer finanziellen Lage. Ihre Reserven waren weitestgehend verbraucht und andere Einnahmequellen in nächster Zukunft nicht in Sicht.
Sie griff nach dem Telefon und hinterließ eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter der Agentur, für die sie als freiberufliche Illustratorin arbeitete. Dann wählte sie die Nummer, die sie schon seit Jahren in- und auswendig kannte.
Trotz der frühen Morgenstunde wurde bereits nach dem zweiten Klingeln der Hörer abgenommen. Es schien, als hätte ihre Freundin Elizabeth in den letzten acht Monaten nichts anderes getan, als auf diesen Moment zu warten.
Malin saß an ihrem Schreibtisch im Großraumbüro der Mordkommission und gähnte. Nach ihrem desaströsen Besuch bei Fricke hatte sie fast die gesamte restliche Nacht damit zugebracht, Zeile um Zeile in dem Buch nach weiteren Hinweisen zu suchen. Sie hatte eine Liste mit Anhaltspunkten zusammengetragen, bei denen es sich lohnen könnte, sie mit der Ermittlungsakte abzugleichen. Eine weitere Übereinstimmung hatte sie bereits gefunden: Im Krimi wurde ebenfalls ein Wagen mit Kleidung und Brieftasche des Toten aufgefunden. Malin war überzeugt, auf der richtigen Spur zu sein. Im Buch hatte der Täter fingierte Indizien und Spuren hinterlassen, die letzten Endes zur Aufklärung des Mordes geführt hatten. Sie würde sich noch mal die Fundstücke vom Tatort anschauen müssen.
Kopfschmerzen bereitete Malin die Identität des Opfers.