Weinrache. Susanne Kronenberg
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Während er den Kehren ins Tal folgte, strömten die Entschuldigungen auf ihn ein, die er sich im Lauf der Jahre zurechtgelegt hatte. Argumente, die so schal schmeckten wie abgestandenes Bier. Dass er viel zu jung Vater geworden sei, gerade 19 Jahre alt und hungrig auf das Leben. Ende der 60er-Jahre galt es in den Kreisen seiner Eltern noch als Schande, ein uneheliches Kind in die Welt zu setzen, und weder er selbst, noch die glücklose junge Frau hatten den Mut, sich den Forderungen der Eltern zu verweigern. So wurde geheiratet, und das junge Paar zog in die Villa der Familie Tann. Später nahm er sich jeden Freiraum, widmete sich der Lehre im Verlag seines Onkels, später dem Studium, während die junge Frau, unter der strengen Obhut der Schwiegereltern, nur für das Kind leben durfte. Eine stille Frau, die ihm immer fremd blieb. Sie war keine Jugendliebe; einfach nur ein Mädchen, auf das er sich aus Neugierde einmal zu oft eingelassen hatte. Nach wenigen Jahren wurde sie krank, welkte dahin wie eine Pflanze ohne Licht. Als hätte sie sich aufgegeben. Obwohl sie vor drei Jahrzehnten gestorben war, gelang es ihr in letzter Zeit immer öfter, sich in seine Gedanken zu drängen. Als wollte sie als Tote nachholen, was ihr als Lebende nicht vergönnt war: einen Platz in seinem Leben zu erobern. Arthur dagegen war es inzwischen gelungen, diesen Platz einzunehmen. Oder, überlegte Lutz selbstkritisch, war es nicht eher so, dass er sich als Vater diesen Raum in Arthurs Leben erkämpft hatte? Reichlich spät. So war es auch keine übliche Vater-Sohn-Beziehung; eher ein Verhältnis zwischen sich respektierenden Freunden.
Gegen trübsinnige Grübeleien half am besten Bewegung. So setzte er sich wieder in Trab, sobald er die Straße erreicht hatte, und lief unter dem Viadukt hindurch in die angrenzenden Nerotalanlagen. Er wich einer Gruppe Stöcke schwingender Nordic Walkerinnen aus, umrundete in gedrosseltem Tempo einen Schäferhund samt Herren und trabte, statt nach links zu schwenken und in die Lanzstraße einzubiegen, die ihn zu seinem Haus führen würde, weiter geradeaus und inmitten des Parks entlang bis in die Taunusstraße. Eine väterliche Sehnsucht nach Arthur hatte ihn gepackt; ein ungewohntes Gefühl, dem er umgehend nachgehen wollte.
Gewöhnlich war sein Sohn samstags zeitig in seinem Laden, der nun um kurz vor 11 Uhr seit einer Stunde geöffnet war. Doch nur Josef Brunner trat Lutz entgegen. Die hünenhafte Gestalt hielt er wie immer ein wenig vorgebeugt, als wäre so viel körperliche Präsenz einem Kunst- und Antiquitätenhandel unangemessen. Josefs sonst meist zufriedene Miene wirkte angespannt. Trotzdem begrüßte er den Besucher mit freundlicher Zurückhaltung.
»Ist Arthur bei einem Kunden?«
Das wüsste er selbst gern, erwiderte Josef Brunner. Er sei nur zufällig im Laden, weil er seine Tasche vergessen habe. Eigentlich habe er seinen freien Tag. Anstatt seinen Besorgungen nachzugehen, telefoniere er seit einer Stunde hinter Arthur her. Bislang ohne Erfolg.
So besorgt hatte Lutz den Geschäftspartner seines Sohnes niemals erlebt. »Darf Arthur sich nicht einmal verspäten?«
Josef Brunner schüttelte den Kopf. »Das passt nicht zu ihm. Er hätte mich angerufen. Arthur lässt den Laden nicht im Stich. Du kennst ihn doch!«
Eine Floskel, die Lutz zu denken gab. Was wusste er wirklich über seinen Sohn? Er fragte nach der Studentin, die ab und zu im Laden aushalf. Vielleicht hatte Arthur mit dem Mädchen gerechnet.
Josef Brunner widersprach. »Simone hat einen Job auf dem Weinfest. Sie arbeitet jedes Jahr am Stand ihres Onkels.«
Die Rheingauer Weinwoche ging in die letzte Runde. Nur noch zwei Tage, was Lutz sehr bedauerte. Wie in jedem Jahr hatte er das Weinfest dazu genutzt, seine Kontakte zu pflegen, und sich jeden Abend mit Freunden, Autoren und Geschäftspartnern bei verschiedenen Winzern getroffen und neben den hervorragenden Weinen auch das wunderbare Sommerwetter genossen. Seinetwegen hätte das Fest noch andauern können.
Während sie gemeinsam erwogen, was Arthur aufgehalten haben könnte, schlug die Türglocke an. Eine junge Frau betrat den Laden: Diane Fischer, die Ehefrau des erfolgsverwöhnten Architekten Moritz Fischer. Lutz kannte Moritz, seit er mit Arthur in eine Schulklasse ging, und begegnete dem Ehepaar Fischer hin und wieder bei privaten Einladungen und öffentlichen Veranstaltungen. Das letzte Treffen hatte in der ›Villa Stella‹ stattgefunden, erinnerte er sich nur allzu gut. Zwei Wochen lag das zurück. Die Fischers hatten anlässlich der abgeschlossenen Renovierung ihrer Bauhausvilla eine Reihe von Leuten eingeladen, die sie für bedeutend genug hielten, und auch Lutz Tann auf die Gästeliste gesetzt. Ob er die Einladung seiner Eigenschaft als Wiesbadener Verleger zu verdanken hatte, oder der Tatsache, mit der Galeristin Undine Abendstern liiert zu sein, wollte er nicht abwägen. Die Fischers hatten eines oder zwei Gemälde bei Undine gekauft. An jenem Abend hatte er die Blicke kaum von Diane lassen können. Undine verfügte über genügend Stil, um mit der Szene zu warten, bis sie im Wagen saßen. Seine altbackenen Argumente, sie könne sich die grundlose Eifersucht sparen, Diane Fischer sei eine verheiratete Frau und außerdem viel zu jung für ihn, falls er sich für sie interessieren würde, was er selbstverständlich nicht täte, diese und andere Ausflüchte hatte sie mit dem Einwand weggewischt, Diane Fischer sei für gar nichts zu jung und bestimmt nicht die Frau, die sich von einem Seitensprung abhalten ließe. Er war schließlich zu Fuß in seine Wohnung gegangen, und Undine hatte sich erst nach Tagen beruhigt. Er kannte diese Ausbrüche; sie gefiel sich in der Rolle der Tobsüchtigen und pflegte ihre ungerechtfertigten Angriffe. Haltlos deswegen, weil sie von seinen Affären, die er selbstverständlich immer wieder hatte, nichts wissen konnte. Er war diskret.
Diane Fischer eilte ihnen entgegen. Sie fragte nach Arthur. Lutz erwiderte ihr Lächeln mit gemischten Gefühlen. Er fand sie beunruhigend fraulich und anziehend, und zugleich wirkte sie auf ihn wie ein trotziges Kind. Der Blick ihrer Mandelaugen machte ihn mit jeder Begegnung nervöser. Josef Brunner schien gegen diesen Angriff tiefgründiger Weiblichkeit immun zu sein. Nein, er habe keine Erklärung, wo Arthur sich aufhalte, erklärte er ungerührt.
Diane Fischer schob die Unterlippe vor. »Ich verstehe das nicht. Wir waren verabredet. Arthur hat mir ein paar Bücher versprochen.«
Wie viele Leute mochte Arthur an diesem Morgen versetzt haben? Josef legte die hohe Stirn in Falten. Lutz verabschiedete sich mit der Ankündigung, später noch einmal vorbeizukommen, und verließ das Geschäft. Er ging entlang der Taunusstraße zurück zum Neropark und bog dort nach halber Strecke zu seiner Wohnung ab. Nach dem Tod der Eltern war er wieder in die ›Villa Tann‹ gezogen. Das Haus thronte hoch über der Straße und war nur über eine steile Treppe zu erreichen. Auf der unteren Stufe wackelte eine Steinplatte unter seinem Tritt. Er musste sie dringend befestigen lassen. Lutz seufzte unwillkürlich. Ständig war an der Villa etwas zu überarbeiten. Erst im vergangenen Jahr hatte er die Heizung rundum erneuern lassen. Die 100-jährige Stadtvilla war ein Fass ohne Boden. So sehr er das Haus auch liebte, manchmal wünschte er sich, in einem profanen Neubau zu leben. Aber ein Verkauf kam nicht in Frage. In nicht allzu ferner Zeit würde die Villa seinem einzigen Sohn Arthur gehören, und Arthur müsste für das Erbe der Familie aufkommen wie andere Söhne zuvor.
Mit diesem tröstlichen Gedanken stieg er die Treppe hinauf.
5
Das hochsommerliche Wetter und die Gewissheit, dass die Rheingauer Weinwoche an diesem Samstag in ihren vorletzten Tag ging, ließ die Wiesbadener Bürger und Besucher aus der Umgebung zum neuen Rathaus strömen. Familien und Freunde drängten sich zwischen den Buden, die sich dicht an dicht vom alten Rathaus und entlang des Landtags bis zur Marktkirche zogen, deren rote Backsteinmauern in der Morgensonne