Weinrache. Susanne Kronenberg

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Weinrache - Susanne Kronenberg

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um den Abgesandten der Heimatstadt zu begrüßen. Brunos rastlose Blicke strichen über die bunte Schar, als suche er jemanden. Von dem Trubel unbeeindruckt, plauderte Moritz Fischer mit der Frau vom Fernsehen. Vertraulich steckten sie die Köpfe zusammen. Die Frau lachte laut. Norma hielt vergeblich nach Diane Ausschau. Fischers Ehefrau hatte ihren Platz verlassen und war nirgends zu entdecken. Als Norma wieder zum Kurierstand blickte, fiel ihr einer der Mönche auf, der aus der Gruppe ausgeschert war und sich von der Seite an den Stand herandrängte. Wie seine Ordensbrüder trug auch er eine dunkelbraune Kutte, die übergroß geschnitten war. Der Saum reichte bis zu den Knöcheln und gab den Blick auf die nackten Füße in Sandalen frei. Die Arme waren bis zu den Fingerspitzen bedeckt, und die Kapuze hatte er tief ins Gesicht gezogen. Er näherte sich Fischer und der Redakteurin und sprach sie an. Die Frau beugte sich mit einem fragenden Lächeln zu ihm hinunter. Fischer schaute ungehalten ob der Störung. Der Mönch winkelte den rechten Arm an, und wie auf ein verabredetes Zeichen griff Fischer sich an die Brust. Auf seinem Gesicht malte sich ein ungläubiges Staunen aus. Er riss den Mund weit auf, ein stummer Schrei. Unter der Hand breitete sich ein Fleck aus. Das Hemd färbte sich blutrot. Ein taumelnder Schritt zurück, ein Wanken, und Fischer krachte rücklings gegen das Weinregal. Flaschen polterten zu Boden, Gläser klirrten, und die Redakteurin öffnete den Mund und begann zu schreien.

      Fischer sackte in sich zusammen und entglitt Normas Blickfeld.

      6

      Norma hatte keinen Schuss gehört. Aber Fischers Zusammenbruch konnte nichts anderes sein als die Folge eines Schusses. Aus einer Faustfeuerwaffe. Mit Schalldämpfer. Da war vor ihren Augen ein Attentat verübt worden! Selbst als Polizistin hatte sie ein solches Verbrechen nicht aus unmittelbarer Nähe erleben müssen. Die Zeit schien wie eingefroren. Jede Einzelheit, jedes winzige Detail wurde überdeutlich. Sie sah auf die Redakteurin, deren Mund weit offen stand in fassungslosem Entsetzen. Hörte ihr grelles Schreien. Beobachtete Bruno, wie er sich das blasse Gesicht rieb. Schaute auf die anderen Personen im Stand, die sich in die Ecke stürzten, in die Fischer gefallen war, oder ratlos verharrten. Der Görlitzer Abgesandte hatte noch gar nichts begriffen und beugte sich zu seinen verkleideten Bürgern hinüber, bis er auf einmal spürte, dass etwas passiert war, und sich verunsichert umwandte. Und ihre Blicke suchten nach dem Täter! Sie entdeckte die drei, dann vier Mönche zwischen den Umstehenden, unter denen sich allmählich ein Gedanke ausbreitete. Aus ihrer Mitte heraus war etwas Grauenhaftes geschehen.

      Aufgeregte Stimmen wurden laut. Man rief nach der Polizei.

      »Ein Arzt!«, brüllte eine Frau mit sich überschlagender Stimme. »Schnell ein Arzt!«

      Es war die Betreuerin der Prominenten. Was für ein Albtraum, die Arme, ging es Norma durch den Kopf, während sie hastig nach dem übrigen Mönch Ausschau hielt. Endlich entdeckte sie die in braunes Tuch gehüllte Gestalt beim Marktbrunnen. Der Mörder drängte sich zwischen die Besucher, die von dem Attentat nichts ahnten.

      »Es war der Mönch!«, brüllte Norma, so laut sie konnte. »Haltet den Mönch!«

      Sofort stürzten sich einige Männer auf die Mönche in der Gruppe, und es entstand ein heilloser Tumult. Norma hastete an der verdatterten Gabi vorbei und sprang auf das Pflaster. Sie lief, das Schimpfen der angerempelten Passanten ignorierend, auf den Brunnen zu und hetzte am alten Rathaus vorbei und in die Marktstraße hinein. Wohin mochte der Mörder fliehen?

      In der Gasse herrschte kaum weniger Geschiebe als auf dem Festplatz. Der übliche Betrieb an einem Samstagvormittag. Was für eine Kaltblütigkeit, vor aller Augen einen Mordanschlag zu begehen und dann in einem so auffälligen Kostüm in die Menge einzutauchen!

      »War da ein Mönch?«, rief sie den Passanten zu. »Haben Sie einen Mönch gesehen?«

      Ratlose, mürrische und gleichgültige Mienen blieben ihr die Antwort schuldig, bis ein Junge die Straße hinauf zeigte. »Er ist da lang!«

      In der Ferne waren die Polizeisirenen zu hören.

      Im Laufen zog sie das Telefon aus der Hosentasche, drückte den Notruf. »Hier Norma Tann, Ex-Kollegin. Es geht um den Anschlag vor dem Rathaus. Er flieht in Richtung Stadtmitte. Ich verfolge ihn!«

      Außer Atem beschrieb sie die Verkleidung.

      »Überlass das den Kollegen!«, antwortete eine Männerstimme, die ihr vertraut vorkam. »Der Mann ist bewaffnet! Halte dich da raus, Norma …«

      Norma beendete die Verbindung und folgte weiter der Marktstraße, die in die Langgasse, die Haupteinkaufsstraße, mündete. Auf der Kreuzung hatte eine Gruppe afrikanischer Musiker ihr Publikum herbeigetrommelt. Norma zwängte sich zwischen den Zuschauern hindurch, von denen niemand einen Mönch bemerkt haben wollte. Auf gut Glück rannte sie geradeaus weiter und fragte sich durch, bis sie einen neuen Hinweis erhielt.

      Eine alte Frau wies mit ausgestrecktem Arm auf einen Hauseingang: »Da iss als einer nei, der wie ein Mönch ausgeschaut hat! Hab noch gedacht, so ein Mann Gottes, der muss auch zum Arzt.«

      Norma dankte ihr und stürzte zur Haustür. Die Schilder an der Fassade wiesen auf mehrere Arztpraxen hin. Die Tür ließ sich aufdrücken und führte in ein restauriertes Treppenhaus. Rauf oder runter? Norma entschied sich für die Stufen nach unten und stieß draußen auf einen Hintereingang. Vom Hof aus gelangte man über einen Durchgang in eine verlassene Gasse. Norma hielt zu beiden Seiten Ausschau. In der schmalen Straße lagen keine Läden, die Fußgänger herbeigelockt hätten. Kein Mensch war zu entdecken. Der Mönch war außer Sicht, falls er überhaupt hierher geflohen war. Norma rang nach Luft. Mit ihrer Kondition stand es wirklich nicht zum Besten. Dazu gesellten sich heftige Seitenstiche. Sie blieb stehen und presste die Hand gegen den Bauch, bis die Stiche nachließen. Enttäuscht kehrte sie in den Innenhof zurück. Neben dem Tor befand sich ein Holzschuppen. Vorsichtig zog Norma die Tür auf. Im Schuppen entdeckte sie mehrere Fahrräder. Dahinter türmte sich Gerümpel zwischen einer Reihe von Mülltonnen. Norma riss die Deckel auf. In einer Tonne lag obenauf ein schwarzer Plastiksack, den sie mit spitzen Fingern herauszog. Der Kerl hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, das Kostüm besser zu verstecken.

      Sie wählte wieder den Notruf und beschrieb so gut es ging, wo sie sich befand.

      »Bist du in der Hochstättenstraße?«, fragte der Mann an der Zentrale, ein früherer Kollege.

      Der Straßenname war ihr nicht eingefallen. Sie bestätigte ihn und fragte hastig nach Moritz Fischer. »War der Notarzt rechtzeitig da? Wird Fischer durchkommen?«

      »Dem Opfer konnte kein Arzt mehr helfen«, lautete die lakonische Antwort. »Der Mann ist tot.«

      7

      Sonntag, der 20. August

      Moritz Fischer starb durch ein Projektil des Kalibers 9 mm. Das Geschoss habe sein Herz durchdrungen, hieß es am Sonntagmorgen in den Radionachrichten. Polizei und Stadtverwaltung hätten in Erwägung gezogen, die Rheingauer Weinwoche vorzeitig zu beenden, sich aber nach kontroversen Beratungen dagegen entschieden, berichtete ein Reporter des Hessischen Rundfunks. Spezialisten der Polizei seien zu dem Schluss gekommen, dass man es nicht mit einem Amokläufer zu tun habe. Man rechne nicht mit einer weiteren Tat, wurde erklärt, ohne diese Annahme zu begründen. Die Menschen der Stadt stünden unter Schock, meldete der Journalist mit belegter Stimme.

      Trotzdem war das Weinfest an seinem letzten Tag gut besucht; ein Umstand, der Gabi erstaunte, Norma nicht wunderte. Der Tatort eines Mordes übt eine makabere Anziehungskraft aus. Und so wurde der in weitem Abstand abgeschirmte Prominentenstand seit Stunden von Neugierigen umlagert. Viele Besucher brachten Blumen mit, und zur Mittagszeit bedeckte ein Blütenteppich

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